Anonym - Briefe der Lust
weg.
Unter meinen Fingern fühlte Pauls Brust sich fest an. Er strahlte Hitze ab, obwohl sein Gesicht trocken und sogar ein bisschen blass war. Seine Hände zitterten ein wenig, als er sie hob, damit ich die Flecke an den Seiten seines Hemds bearbeiten konnte. Offenbar steuerte er direkt auf eine ausgewachsene Panikattacke zu.
„Das hier ist gar nicht so schlimm“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Ich muss in fünf Minuten zu einem Meeting, und Melissa hat wieder einmal vergessen, meine Sachen aus der Reinigung zu holen. Deshalb habe ich nicht mal ein Hemd zum Wechseln.“ Seine Stimme wurde ein wenig heiser. „Verdammt! Warum musste ich mich ausgerechnet jetzt mit Kaffee überschütten?“
„Sie werden nicht der einzige Mensch bei dem Meeting sein, der sich jemals mit Kaffee bekleckert hat, Paul.“ Ich trat zurück, um den Schaden zu begutachten, und musterte ihn mit kritischen Blicken. „Haben Sie heute ein Jackett dabei?“
„Ja. Natürlich.“
„Ziehen Sie es über. Dann wird niemand etwas bemerken. Es ist zwar ein bisschen warm, aber Sie werden sich besser fühlen.“ Ich tätschelte seinen Arm, und unter meinen Fingern zuckten seine Muskeln.
Paul schüttelte langsam den Kopf. „Paige …“
Ich ließ seinen Satz verhallen, ohne darauf zu reagieren. Wir schauten uns an. Ohne die grelle Deckenlampe wirkte Paul jünger. Die Falten auf seiner Stirn wurden deutlich schwächer, als ich seinen Arm streichelte.
Das hätte ich eigentlich nicht tun sollen. Hätte uns jemand gesehen, hätte diese Geste missverstanden werden können. Das Allermindeste wären rufschädigende Gerüchte gewesen. Aber niemand sah uns, und Paul entspannte sich unter meiner Berührung. Nachdem ich so viele Monate für ihn gearbeitet hatte, wusste ich, was er brauchte.
Plötzlich bekam alles einen Sinn. Ich dachte an den Tag, an dem er das Pflaster auf mein Bein geklebt hatte. Und an seine Listen, die er in allen Einzelheiten niedergeschrieben hatte, um mir ganz genau klarzumachen, was er brauchte und wollte. Ich dachte daran, dass behauptet wurde, es sei schwierig, für ihn zu arbeiten. Er hatte es mir aber so leicht gemacht, genau das zu tun, was er sich wünschte, dass ich mich nicht erinnern konnte, warum ich jemals gedacht hatte, es könne richtig sein, was man sich in der Firma über ihn erzählte.
Ich glaube, zum selben Zeitpunkt wie mir wurde es auch ihm klar.
Er hatte wohl auch früher ganz genau gewusst, was er wollte, und wie schwierig es sein würde, es zu bekommen. Gestern war ich so sehr durch das abgelenkt gewesen, was ich selber brauchte und wollte, dass ich nicht in der Lage gewesen war, das zu verstehen.
„Ziehen Sie Ihr Jackett an, Paul. Und gehen Sie zu Ihrem Meeting. Und morgen trinken Sie anstelle von Kaffee lieber Wasser, bis Sie das Gefühl haben, nicht mehr so ungeschickt zu sein.“ Ich sagte das nicht leichthin. Ich wollte ihn nicht necken.
Es war ein Versuchsballon.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah ich darin Erleichterung und noch etwas anderes. Ein wenig Scham. Und ein bisschen Erregung. Auch ich spürte den Schwindel und das Brennen, aber ich hob meinen Kopf und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
„Und jetzt gehen Sie zu Ihrem Meeting“, sagte ich.
Er zog seine Anzugjacke an und ging.
Zwischen uns war nichts passiert, was irgendetwas mit Sex zu tun hatte. Ich wollte meinen Chef nicht vögeln. Bis zu diesem Tag hätte ich auch nicht gedacht, dass er mich vögeln wollte, abgesehen von der Tatsache, dass die meisten Männer die meisten Frauen vögeln wollen. Dennoch war etwas zwischen uns geschehen, etwas Prickelndes, Erregendes.
Als ich allein in Pauls Büro war, musste ich mich mit den Händen auf seinen Schreibtisch stützen und den Kopf senken, um wieder zu Atem zu kommen. Ich war zweimal in meinem Leben ohnmächtig geworden, und das hier fühlte sich nicht so an. Da war kein grau-roter Nebel, der meinen Blick trübte, und ich hörte auch kein Pfeifen in meinen Ohren. Die Benommenheit fühlte sich eher an wie der atemlose Wirbel kurz vor einem Orgasmus, wenn die Muskeln sich zusammenziehen, der Körper das Kommando übernimmt und der Kopf nichts mehr tun kann, um das Unausweichliche zu verhindern.
Das hier war schon wieder ein seltsames Zusammentreffen von Ereignissen oder vielleicht auch nur ein Zufall. So wie es manchmal geschieht, dass man ein Wort nie zuvor gehört hat und plötzlich kommt es in jedem Buch vor. Oder wenn
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