Anonym - Briefe der Lust
man einen Riesenappetit auf Eiscreme hat, und der Eiswagen fährt genau in dem Moment um die Ecke, in dem man ins Haus gehen will. In meinem Leben gab es plötzlich drei Männer, die einander sehr ähnlich und doch unterschiedlich waren. Vor ein paar Monaten wäre mir das vielleicht gar nicht aufgefallen, aber jetzt konnte ich es beim besten Willen nicht übersehen. Das hatten die Karten bewirkt. Sie hatten mir die Augen für Bedürfnisse geöffnet. Für die Wünsche dieser Männer und auch für meine.
Am vergangenen Abend hatte es meine Welt erschüttert, als ich die Sache mit Eric erfahren hatte. Am heutigen Morgen war mein Leben erneut ins Wanken geraten, als ich las, dass ich keine Nachrichten mehr erhalten würde. Und jetzt, gerade eben, als es um Paul ging, hatte ich etwas Grundsätzliches herausgefunden, das eigentlich schon immer dagewesen war. Es ging mir wie dem Mädchen Dorothy im Märchen mit der Vogelscheuche, dem Blechmann und dem feigen Löwen: Ich hatte es bisher einfach nicht gesehen.
Lange dachte ich über Listen und Nachrichten nach, darüber, was sie für mich bedeuteten. Und was ich wollte.
Und dann wusste ich, was ich zu tun hatte.
„Paige.“ Miriam verzog ihre scharlachroten Lippen zu einem breiten Lächeln. „Wie schön, Sie zu sehen. Was kann ich heute für Sie tun? Brauchen Sie ein Geschenk für irgendjemanden?“
„Nein. Heute bin ich hier, um etwas für mich zu kaufen.“
Ich sah hinüber zu den Regalen, in denen die Schachteln mit Tinte, Füllfederhaltern und Papier gestanden hatten, doch sie waren fort. Miriam kam um den Verkaufstresen herum und bemerkte meinen suchenden Blick. Sie zupfte sanft an meinem Ärmel.
„Im Hinterzimmer. Kommen Sie mit.“ Sie hatte die Schachteln in ein Regal auf Augenhöhe gestellt und die Deckel geöffnet, sodass man das Papier sehen konnte. „Hier sehen es zwar nicht so viele Leute, wenn sie sich aber die Zeit nehmen, es sich anzuschauen, werden sie nicht widerstehen können, da bin ich mir sicher.“
Ich wusste bereits, welches ich wollte. Die Schachtel war rot lackiert und mit einem Muster in Blau und Purpur geschmückt. Das Papier, das darin lag, hatte ein Wasserzeichen in Form einer Libelle, und ich würde damit einige Wochen auskommen, selbst wenn ich jeden Tag einen Brief schrieb. Das Tinten-und-Pinsel-Set, das ebenfalls darin enthalten war, interessierte mich weniger. Ich hatte nicht die Absicht, mich in Kalligrafie zu versuchen.
„Das da.“ Ich schloss den Deckel und schob den kleinen Holzknebel durch die Schlaufe aus Seidenband, um die Schachtel zu verschließen. Dann wandte ich mich Miriam zu und hielt inne, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Was ist los?“
„Ich wusste, Sie würden etwas finden, das Sie auf das Papier schreiben wollen.“ Sie verließ bereits den Raum und machte mir über ihre Schulter hinweg ein Zeichen, ihr zu folgen.
Die Schachtel war schwerer, als sie aussah. Das lag an dem Marmorstempel, ebenfalls in Libellenform, und dem Porzellangefäß, in dem die Tinte war. Das, was ich damit vorhatte, ließ sie aber wohl auch schwerer wiegen.
Während ich die Schachtel zur Kasse trug, glitten meine Fingerspitzen über das lackierte Holz. Ich wollte sie nicht hergeben, damit Miriam den Preis eintippen und sie in eine Tüte mit dem Speckled-Toad-Logo stecken konnte, aber ich reichte sie ihr.
Ich schwitzte ein wenig, und in meinem Bauch und meiner Kehle summte es vor Erwartung und Vorfreude. Die Farben um mich herum erschienen mir ein wenig zu leuchtend und die Geräusche zu laut. Ich dachte an ein stilles Zimmer und Kerzenlicht und an das leise Kratzen einer Feder auf dem Papier. Auch wusste ich schon ganz genau, was ich schreiben würde.
Miriam gab meinen Einkauf in die Kasse ein und wickelte die Schachtel großzügig in Seidenpapier, bevor sie sie in die Tüte gleiten ließ. Dann sah sie mich über ihre Halbbrille hinweg an, presste die Lippen aufeinander und klopfte mit ihren knallrot lackierten Fingernägeln auf den Verkaufstresen. „Sie brauchen noch etwas.“
Ich gab ohnehin schon zu viel Geld aus. „Ich glaube nicht.“
Miriam ignorierte meine Worte und wandte sich der niedrigen Glasvitrine neben dem Tresen zu. Sie beugte sich vor, um die Stifte von Cross und Montblanc darin zu betrachten, von denen jeder eine eigene mit Samt ausgeschlagene Wiege hatte. Sie ließ ihren Finger über den Glasdeckel gleiten und lenkte meine Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen der Stifte, um die ich vom ersten Tag
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