Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
dem Rest der Bande zu teilen.
Obwohl wir eindeutig menschliche Körperfunktionen wiedererlangen, frage ich mich: Werden wir zurückkehren, wenn wir schwer verletzt sind? Wird uns die genetische Anomalie, die uns ursprünglich in Zombies verwandelt
hat, davor bewahren, dass wir getötet werden? Wird uns die heilende Wirkung von Menschenfleisch davor bewahren, dass wir uns Gedanken um Heftpflaster, Antibiotika und Krankenversicherungen machen müssen?
Gestern Abend, als ich einen Mom-Hackbraten mit Kartoffelpüree und frischem Spinat zubereitet habe, habe ich mir den Zeigefinger der linken Hand aufgeschlitzt. Bei einem Atmer wäre das Blut nur so herausgespritzt, er hätte die Wunde verbunden oder wäre womöglich ins Krankenhaus gefahren, um sie nähen zu lassen. Doch da mein Körper noch nicht mit den vollen fünf Litern roter und weißer Blutkörperchen, Plättchen und Plasma aufgefüllt ist, tropfte kaum etwas heraus. Und als ich heute Morgen aufgewacht bin, war die Wunde fast verheilt.
Ich habe so meine Zweifel, dass das Landwirtschaftsministerium plötzlich Menschenfleisch in die Ernährungspyramide aufnehmen wird, aber im Vergleich zum Nährwert von frischen oder kürzlich zubereiteten Atmern kommt einem der Nährwert der empfohlenen Tagesration Obst und Gemüse wie der von fünf bis acht Schüsseln Schoko-Crispies vor.
Nachdem ich die Reste des Mom-Hackbratens vertilgt habe, beschließe ich, einen gemütlichen Spaziergang durch die Stadt zu machen, um einen klaren Kopf zu kriegen und mich um ein paar unerledigte Angelegenheiten zu kümmern. Der Regen vom Wochenende hat sich verzogen, doch am Himmel hängen immer noch dicke Wolken und verhüllen den Mond. Abgesehen vom Schein einzelner Straßenlaternen ist die Straße vor sechs Uhr morgens völlig dunkel. Doch selbst wenn dem nicht so wäre, müsste ich meine wahre Identität nicht mehr verbergen. Niemand
würde etwas merken. Nicht auf den ersten Blick. Und auch nicht auf den zweiten. Nur wer mir dicht auf die Pelle rückt, könnte erkennen, dass ich etwas an mir habe, das nicht ganz menschlich ist.
Seit meine Eltern von der Bildfläche verschwunden sind, muss ich nicht jeden Tag so tun, als wäre ich der perfekte Zombie, so dass ich jetzt relativ problemlos spazieren gehen kann. Und dank meines verbesserten Äußeren wirft auch keiner mehr aus dem Autofenster Tomaten oder Getränke nach mir.
Es sind die einfachen Dinge, die das Dasein als Untoter angenehm machen.
Rita meint, es sei gefährlich, sich zu oft in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wenn jemand mich für einen Zombie hält und die Animal Control verständigt, lande ich in der SPCA, ohne irgendeinen nahen Angehörigen, der mich da wieder rausholen könnte. Damit hat sie nicht ganz Unrecht. Doch die paar Ausflüge ohne Begleitperson und die wöchentlichen »Anonyme Untote«-Treffen mal ausgenommen, war ich mehr oder weniger fünf Monate im Weinkeller eingesperrt. Jetzt, wo Mom und Dad im wahrsten Sinne des Wortes dahin sind, habe ich das Gefühl, als hätte man mich auf Bewährung freigelassen. Wenn deine Wunden praktisch von einem Tag auf den anderen verheilen, so dass du dich ein bisschen unsterblich fühlst, und wenn du dann auf Nummer sicher gehst, kommst du dir vor wie Clark Kent.
Ich durchquere die Schlucht und überlege, bei Ray und den Zwillingen vorbeizuschauen, die vielleicht einen weiteren Obdachlosen verspeisen, doch ich muss ihnen ein andermal einen Besuch abstatten. Abgesehen davon, dass es sich nicht gehört, unangemeldet in ein Essen zu platzen,
habe ich noch was zu erledigen. Außerdem habe ich bereits gegessen.
Wie üblich nach Sonnenuntergang ist der Soquel Cemetery menschenleer. Außer irgendwelchen Jugendlichen, die eine Mutprobe bestehen wollen oder auf einen Kick aus sind, halten sich die meisten Atmer nachts vom Friedhof fern. Ich werfe ihnen das nicht vor. Selbst in meinem neuen, verbesserten Zustand, möchte ich mir nicht über den Weg laufen, wenn ich hinter dem Grabstein meiner Frau aus dem Schatten trete.
Diesmal habe ich keine Blumen mitgebracht, aber ich bin ja auch nicht hier, um ihr meine Ehre zu erweisen oder Trost zu suchen. Ich bin hier, um mich zu verabschieden.
Meine Frau fehlt mir immer noch. Und unser gemeinsames Leben. Aber sie ist tot, und ich bin ein Zombie. Ich muss sie loslassen. Ich muss den Blick nach vorne richten.
»Hi, Rachel«, sage ich. Es ist das erste Mal seit jenen heißen Sommertagen Ende Juli, dass ich ihren Namen ausspreche. In der
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