Antarktis 2020
glaubte, von allen Gesichtern Bedauern oder Mitleid ablesen zu können.
Während des Frühstücks, und das bildete er sich nicht nur ein, herrschte nicht die gewohnte heitere Atmosphäre. Es sah aus – und bei diesem Gedanken lachte Thomas sarkastisch in sich hinein –, als hätte jemand Trauer und man wäre so pietätvoll, darauf Rücksicht zu nehmen.
Gegen Ende der ersten Schicht erlebte er es selbst: Drüben in der Strecke wurden wieder die »Pferdchen« angeschirrt.
Thomas beschäftigte sich angelegentlich mit dem Theodoliten und beobachtete mit größter Aufmerksamkeit das Tun vom Leitstollen aus. Er hatte immer noch die stille Hoffung, daß das Klemmen der Blöcke nicht mit seiner Messung zusammenhing. So hatte er in der Schicht jeden Block beobachtet, der seine Reise nach übertage antrat. Auch jetzt zogen die Raupenketten gleichmäßig an. Der Block setzte sich in Bewegung.
Die Männer verließen, nachdem er vorübergeglitten war, den Leitstollen, standen in der Strecke und blickten dem sich entfernenden Koloß nach. Auch das war Thomas früher nicht aufgefallen.
Und da geschah es: Ein unheimliches Knirschen, es hörte sich an, als gerieten zwei Kreissägeblätter aneinander. Eisbrocken flogen umher und polterten dumpf auf die Sohle. Der Motorenlärm, vorher hochtourig, ging in gleichmäßiges Leerlauftuckern über. Die Eiswand, die sich eben noch stetig entfernt hatte, stand.
Die Männer neben Thomas fluchten. Einer, so schien es, warf ihm einen giftigen Blick zu. Sie hasteten davon, Kabel wurden ausgerollt. Zwei liefen vor zum Block, verfolgt von einem Scheinwerferstrahl. Sie trugen Handstrahler, schlossen sie an die Kabel an und begannen dort, wo sich das Eis des Blockes in das des Stoßes gefressen hatte, zu schmelzen.
Thomas tat, als ginge ihn das alles nichts an, machte sich ganz vorn im Leitstollen zu schaffen, dort, wo er sich etwa vierzig Meter vom Geschehen entfernt in der Strecke befand. Dort war auch Deland. Und jetzt sah Thomas es abermals, dieses höhnische Gesicht, als er sich an ihm vorbeizwängen mußte.
Thomas verspürte wieder Angst, obwohl bis jetzt nicht erwiesen war, daß seine Angaben nicht stimmten. Aber er spürte sie, diese Angst, geboren aus seiner Unsicherheit.
Im Büro hatte Thomas das Gefühl, als gingen sie ihm aus dem Weg. Auch sein Verhältnis zu Nina schien ihm getrübt. Sie sahen ihn vermutlich als Versager, mußten ihn so sehen. Er hätte auf den Tisch hauen, sie anschreien mögen!
Statt dessen setzte er sich auf seinen Platz, gab dem Rechner die Werte ein, stellte bewußt, als er die Koordinaten der Festpunkte bereits erhalten hatte, keinen Vergleich zur ursprünglichen Messung her, sondern wartete die Zeichnung ab, um sie mit dem Projekt zu vergleichen.
Thomas tat gelassen, ließ den Steuerstreifen, den sein Tischrechner ausgab, spielerisch durch die Finger gleiten, rollte ihn, obwohl es nicht nötig gewesen wäre, auf, ging zum Zeichengerät und nahm, als er sah, daß es noch besetzt war, eine Limonade aus dem Automaten.
Danach legte er den Streifen ein und verfolgte die Arbeit des Zeichenstiftes. In wenigen Minuten war der Riß fertig. Er wechselte die Zeichenfarbe, ließ den Streifen des Projektes einfließen und beobachtete jetzt den Stift nicht. Er wollte den Augenblick, in dem er das Resultat vorliegen hatte, so weit wie möglich hinausschieben. Triumph oder Fiasko sollten ihn überraschend treffen.
Als das Summen des Gerätes verstummte, drehte er sich um. Einige Kollegen sahen gespannt zu ihm herüber. Als er sich ihnen zuwandte, nahmen sie ihre Arbeit wieder auf.
Schon der erste Blick jagte Thomas eine Hitzewelle durch den Körper. Deutlich wand sich aus der Sollrichtung heraus die Iststrecke – wie der Span vom Scheit. Die Kurve war eindeutig zu eng.
Es liegt an meiner Angabe, daß die Blöcke klemmen! Es liegt damit an mir, daß Störungen einen erheblichen Planrückstand verursachen, und es liegt auch an mir, daß die Ortsbelegschaften aller vier Schichten dadurch benachteiligt sind… Aber damit nicht genug: Es mußte korrigiert werden, sollte die Lagerstätte am vorgesehenen Punkt angefahren werden, und das kostete erneuten Aufwand.
Thomas stand über das Gerät gebeugt, um das Blatt herauszunehmen, als plötzlich hinter ihm leise, aber bestimmt, wie es seine Art war, Lewrow sagte: »Komm mit allen Unterlagen zu mir.«
Thomas wagte nicht, die Kollegen anzusehen. Er spürte förmlich ihr Mitleid, vielleicht auch ihre Schadenfreude.
Als er
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