Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Philosophen beziehen sich auf eine Form des Irrtums, den so genannten naturalistischen Fehlschluss , der besagt, dass das Natürliche auch notwendigerweise das moralisch Richtige sei – auch ich sehe das als Irrtum an; man erinnere sich an das vierte Kapitel, wo es um die Problematik ging, die entsteht, wenn das darwinistische Selektionsprinzip auf die moderne Gesellschaft übertragen wird: Die Notwendigkeit, sich um die Schwachen und Gescheiterten zu kümmern, ist etwas, das der Natur zuwiderläuft. (Problematisch wird es allerdings, wenn der naturalistische Fehlschluss aus dem Bereich der Moral herausgenommen und fälschlicherweise auf die Vorstellung übertragen wird, dass man seinem natürlichen Instinkt in Zweifelsfällen folgt.) Welche Kriterien auch immer man hier ansetzt, es handelt sich nicht um einen Fehlschluss, wenn es um die Erwägung von Risiken geht. Die Zeit ist der beste Fragilitäts-Test – sie umfasst ein hohes Maß an Unordnung –, und nur die Natur hat von der Zeit das Siegel »Robust« erhalten. Einige Philosophaster wollen nicht verstehen, dass Risiken und Überleben wichtiger sind als Philosophieren, sie sollten irgendwann den Genpool verlassen – wahre Philosophen würden meiner Aussage zustimmen. Es gibt noch einen schlimmeren Fehlschluss: Manche begehen den entgegengesetzten Fehler, indem sie behaupten, das Natürliche sei ein Fehlschluss .
Haufenweise Neurosen
Stellen Sie sich jemanden vor, den man umgangssprachlich als neurotisch bezeichnen würde. Er ist dünn, hat eine verspannte Haltung, und seine Stimme klingt unsicher. Er macht seltsame Bewegungen mit dem Hals, wenn er versucht, sich zu äußern. Sobald er an seinem Körper einen kleinen Pickel entdeckt, nimmt er an, dass er Krebs hat, dass er daran sterben wird und dass der Krebs bereits gestreut hat. Seine Hypochondrie beschränkt sich nicht auf den medizinischen Bereich: Wenn er in seinem Job einen kleinen Rückschlag hinnehmen muss, reagiert er, als stünde der Konkurs unmittelbar bevor. Im Büro beißt er sich an allen möglichen Kleinigkeiten fest und verwandelt systematisch jeden Maulwurfshügel in einen Berg.
Das Letzte, was man sich wünschen würde, wäre, mit einem solchen Menschen im selben Auto zu sitzen, wenn man zu einer wichtigen Verabredung unterwegs ist und im Stau steckt. Das Verb »überreagieren« entstand aufgrund dieses Prototyps: Er kennt keine Reaktionen, sondern nur Überreaktionen.
Nun vergleiche man einen solchen Menschen mit dem Unerschütterlichen, dem es auch unter widrigen Umständen gelingt, Ruhe zu bewahren – eine unabdingbare Voraussetzung, um Anführer, militärischer Befehlshaber oder Pate bei der Mafia zu werden. Normalerweise immun gegen unbedeutende Informationen, beeindruckt er durch seine Selbstbeherrschung in schwierigen Situationen. Als Beispiel für einen gelassenen, ruhigen und bedachten Tonfall höre man sich Interviews mit »Sammy the Bull« Salvatore Gravano an, der in die Ermordung von 19 Männern (lauter rivalisierende Gangsterbosse) verwickelt war. Er spricht ohne jede Anstrengung, als wäre das, worüber er redet, »keine große Sache«. Dieser zweite Typus reagiert im Unterschied zum ersten nur ab und an, und nur wenn unbedingt nötig; wenn er außer sich gerät, was in seltenen Situationen vorkommt, registriert das – anders als bei dem neurotischen Typus – jeder und nimmt es ernst.
Der Informationsüberfluss, dem die Menschen in der Moderne ausgesetzt sind, verwandelt sie aus dem gleichmütigen zweiten Typ in den neurotischen ersten. Wichtig für unsere Diskussion: Während der zweite lediglich auf echte Informationen reagiert, reagiert der erste ganz überwiegend auf Geräusche. Der Unterschied zwischen den beiden Charakteren markiert den Unterschied zwischen Geräusch und Signal. Ein Geräusch ist etwas, das man ignorieren sollte; Signale sind das, worauf es zu achten gilt.
Ich habe das Thema »Geräusch« in diesem Buch bereits kurz gestreift; Zeit, genauer darauf einzugehen. In der Wissenschaft bezeichnet Geräusch beziehungsweise Rauschen mehr als nur ein akustisches Phänomen, es bezieht sich ganz allgemein auf zufällige Informationen, die in jeder Hinsicht überflüssig sind und beiseitegeschoben werden müssen, um verstehen zu können, was man eigentlich hört. Man denke beispielsweise an Bestandteile einer kodierten Nachricht, an zufällig eingestreute Buchstaben, die keinerlei Bedeutung haben und lediglich Spione in die Irre führen sollen; oder an das
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