Antonio im Wunderland
Italien
zu fahren, hat paradoxerweise mit der unendlichen
Gastfreundschaft meiner Familie zu tun. Die Fahrt
selbst ist ein Klacks mit der Wichsbürste, verglichen
mit dem Aufenthalt unter eineinhalb Dutzend Italie-
nern, die ständig um einen herumschwirren. Sobald
unsere Leute wissen, dass wir kommen, müssen sie für
mich einkaufen. Solange ich da bin, stehen Unmengen
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Bier der Marke Peroni im Kühlschrank, denn ich muss mal «ja» gesagt haben, als ich gefragt wurde, ob ich
dieses Bier-Surrogat mag. Außerdem wartet immer ein
frischer panettone auf mich, damit ich mich freue und zugreife, nach der langen Fahrt.
Ich bringe es nicht über mich, Nonna Anna die
Wahrheit zu sagen, nämlich dass ich nur wenig auf der
Welt weniger mag als panettone . Ich würde einen panettone lieber als Kopfbedeckung benutzen, als ihn zu essen. Ich glaube auch nicht dass es viele Dinge gibt, die
,
noch spuckeresistenter sind als so ein Staubhaufen mit
Zitronat. Doch selbst wenn ich zugeben wollte, dass
ich panettone fast noch weniger leiden kann als rechts-radikale Sachsen, ich könnte es nicht, denn damit wä-
ren frühere Aussagen («Hmm! Lecker! Und so frisch!»)
als Lügen enttarnt. Ich esse also und denke dabei an
was Schönes.
Überhaupt. Essen. Ein Dauerthema in meiner Fami-
lie. Im Verlaufe meiner Ehe habe ich etwa zehn Kilo
zugenommen, in jedem Jahr zwei. Und in jedem Jahr
haben wir die Familie zweimal besucht. Interessant,
nicht? Rein rechnerisch ergibt sich also bei einer Ehe-
dauer von vierzig Jahren und regelmäßigen Fahrten
nach Campobasso eine Gewichtszunahme von achtzig
Kilogramm. Sara möchte nicht, dass ihr Mann eines
Tages 150 Kilo wiegt. Und sie möchte gerne Fernreisen
machen, tropische Strände sehen und nicht beim Ba-
den Glasscherben aus dem Sand ziehen.
Einmal, ein einziges Mal fuhren wir im Sommer
nicht nach Italien. Das war im vergangenen Jahr. Das
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lag daran, dass Sara in dieser Zeit mit ihrem Vater über
Kreuz lag. Sie hatten einen kurzen, aber heftigen Streit,
in dem es darum ging, dass Antonio überall und immer
ohne Angelschein angelt. Ich fand, das sei seine Sache,
aber Sara fing an, mit ihm darüber zu diskutieren. Sie
mag nicht, wenn er seine Ausländerrolle dazu instru-
mentalisiert, sich nicht an Regeln halten zu müssen. Er
bestand darauf, dass er die deutschen Angelgesetze
nicht kenne und ihn niemand dafür zur Rechenschaft
ziehen dürfe. Aber Sara hielt ihm vor, dass er nicht die
Wahrheit sage, und er, der Lüge bezichtigt, fing nun
an, sich über seine Tochter zu beklagen, die nie zu ihm
halte.
Auch wenn es scheinbar um nichts Wichtiges ging,
so machte ihr die Angelegenheit zu schaffen: Denn
wenn Antonio die Gastarbeiterkarte spielt, sich ah-
nungslos und dumm stellt, dann macht er sie damit au-
tomatisch zum Kind eines ahnungslosen Ausländers.
Seine freiwillige, mehr noch: betrügerische Selbstde-
gradierung stuft sie im gleichen Maß mit ab. Und das
kann sie nicht ertragen. Natürlich wollte er sich nichts
von seiner Tochter sagen lassen. Wer will das schon?
Also wurde er wütend und schloss Sara und damit auch
mich theatralisch vom gemeinsamen Urlaub aus: «In
mein Urlaube du biste ein unerwunschte Person.»
«Vielleicht könntest du dich öfter mit deinem Vater
streiten, dann würden wir immer woandershin fahren»,
sagte ich. Ich nahm diesen Streit nicht so ernst, und
das war ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte.
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Als Paar im Reisen ungeübt, suchten wir ein Reisebüro
auf und buchten einen Cluburlaub in einer Anlage, wo
keine Familien hindürfen, denn wir wollten ausdrück-
lich keinen Familienurlaub. Später erfuhr ich, dass der-
artige Clubs von Reisekaufleuten auch scherzhaft
Spermabunker genannt werden, weil es da unglaublich
zur Sache geht. Unser Spermabunker befand sich auf
einer Kanareninsel und wurde von weiß gekleideten
Spinnern geleitet, die begeistert in die Hände klatsch-
ten, wenn sie einen sahen.
Um den Übernachtungspreis abzuurlauben, schrie-
ben wir uns für jede erdenkliche Tätigkeit ein. Ich bil-
dete mir ein, dass man das Preis-Leistungs-Verhältnis
günstig beeinflussen könne, wenn man bis zu acht-
zehn Stunden pro Tag in irgendwelchen Kursen und
Workshops verbringe. Tatsächlich war das dem Club
vollkommen schnuppe, er ging jedenfalls nicht an
meinen vielfältigen Aktivitäten zugrunde. Mein Yoga-
lehrer Bernd aus Eberswalde merkte allerdings an,
dass ich viel
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