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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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sind sie das gar nicht. Das ist
    halt so ein Italo-Frauen-Look.
    Man kann meinen Verwandten nicht gerade vorwer-
    fen, nicht laut genug zu sein. Allerdings ist jede Familie in der Nachbarschaft laut, und alle sind irgendwie anders laut. Kenner können eine italienische Familie am
    Sound erkennen. Bei manchen dominieren die Mütter,
    bei anderen die Kinder und bei uns Onkel Raffaele.
    Sein Organ ist wirklich markerschütternd, vor allem
    wenn er seine Kinder ruft oder singt. Da er beides stän-
    dig macht, ergibt sich ein ungeheuerlicher Klangtep-
    pich, auf dem wir durch den Urlaub fliegen. Wenn er
    nicht zufälligerweise der Onkel meiner Frau wäre, wür-

    1 Angeber wissen: Bibendum heißt das Michelin-Männchen.
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    de ich ihn für unerträglich und sein Gebrüll für den
    schlimmstvorstellbaren Ton halten. 1
    Seit einiger Zeit hat Onkel Raffaele einen Job. Das
    wäre nichts Besonderes, wenn es nicht sein allererster
    wäre. Er ist bereits 67 Jahre alt und hat noch nie ernst-
    haft gearbeitet. Hat mal gegen Bares beim Renovieren
    geholfen oder vielleicht ein Auto repariert, aber das wa-
    ren Nebenjobs, wie er selber sagte. «Neben» neben
    Nichtstun. Nun aber hat er zu dem Ankreuzen von Lot-
    tozahlen noch eine regelmäßige Betätigung gefunden,
    in der er alle seine Talente (rumbrüllen, sich hinten an-
    stellen, leere Kästchen ausfüllen) gut gebrauchen kann.
    Auch diese Aufgabe ist quasi inoffiziell und keineswegs
    mit der Zahlung von Steuern oder anderen Abgaben
    verbunden. Aber immerhin ist er aus dem Haus, was
    seine Frau natürlich großartig findet. Da kann sie mal
    für zwei oder drei Stündchen die Watte aus den Ohren
    nehmen.
    Onkel Raffaele arbeitet in der Stadtverwaltung, und
    diese Formulierung muss man wörtlich nehmen. Er

    1 Nach längerer Überlegung muss diese Aussage revidiert werden.
    Der mit weitem Abstand sadistischste, der gemeinste, der fieseste Ton der Welt ist das Geräusch, mit welchem die Kultursendung
    «Aspekte» im Zweiten Deutschen Fernsehen ihre Beiträge voneinander trennt. Er klingt wie eine Mischung aus einem homosexu-ellen Kuckuck und einer Luftschutzsirene. Unerträglich. Ich sehe diese Sendung nur, um zu prüfen, ob dieser Gruselsound immer noch da ist. Womöglich machen das alle anderen Zuschauer auch so, denn die Konträrfaszination dieses U-hu-hu-huuus ist enorm.
    Ein ebenfalls sehr schlimmes Geräusch: rappende Kinder im
    Werbefernsehen.
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    stellt sich vor den Eingang der Behörde und wartet auf
    Bürger, die Anträge stellen und Formulare ausfüllen
    müssen. Damit muss man sich nämlich auskennen,
    und wenn Raffaele Marcipane in den Jahren hem-
    mungslosen Sozialschmarotzertums in irgendetwas ei-
    ne Meisterschaft entwickelt hat, dann in der Bewälti-
    gung von Behördenkram. Und der ist in Italien wirklich
    kafkaesk, ganz besonders im Gesundheitswesen. Da
    Raffaele aus Querulantentum und Langeweile ohnehin
    dauernd Bauanträge für fiktive Bürohäuser stellt und
    die Beamten mit konfusen Eingaben nervt, war es für
    ihn nur ein kleiner Schritt, dies sozusagen in den Adels-
    stand eines Berufes zu heben. Und da ist er nicht der
    Einzige. In Campobasso hat er fünf Kollegen, die mehr
    oder weniger regelmäßig vor dem Amt aufkreuzen und
    Mitbürgern ihre Dienste anbieten. Viele von denen ha-
    ben es längst aufgegeben, die verschiedenfarbigen Bö-
    gen selber auszufüllen: ein einziger kleiner Fehler, und
    man steht wieder am Ende der Schlange. Andere haben
    keine Zeit zu verlieren. Wer kann es sich schon leisten,
    seine Schreinerei für einen halben Tag zu schließen,
    bloß um ein neues Gebiss für seine Mutter zu beantra-
    gen? Also erledigt Raffaele dies nach einem kurzen
    Briefing. Er und seine Leute sind ein regelrechtes
    Kompetenzteam, nur selten geht etwas schief. Im Falle
    der neuen Zähne für die Schreiner-Oma beantragte er
    einen Unterkiefer, obwohl ein Oberkiefer benötigt
    wurde, und fand die Kritik daran kleinlich. «Zähne sind
    Zähne. Wenn sie nicht passen, verkauf sie doch weiter.
    Kannst froh sein, dass ich dir überhaupt geholfen ha-
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    be», beschimpfte er seinen Kunden, der ihn aber trotz-
    dem nicht bezahlte.
    Sein Geschäft ist recht einträglich. Komplexe Sach-
    verhalte, für die man lange anstehen muss oder häufi-
    ger an verschiedenen Schaltern oder Zimmern, kom-
    men nicht selten auf zwanzig oder dreißig Euro. Gibt
    es hingegen nur etwas abzugeben, ist der Schwierig-
    keitsgrad also niedrig 1 , muss sich Raffaele mit fünf Euro

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