Antonio im Wunderland
begnügen. Macht aber nichts, denn das Schöne an
dieser Beschäftigung ist ja, dass man gebraucht wird –
und interessante Details seiner Mitbürger erfährt, die
man anschließend erzählen kann.
Seit vier Tagen sind wir nun in Campobasso, und
heute hat das Warten ein Ende, denn heute beginnen in
Italien die Ferien. Das bedeutet, dass alle Binnenbe-
wohner des Landes gleichzeitig ans Meer fahren. Wir
werden vier bis fünf Autos bis unters Dach mit Men-
schen zwischen vier Monaten und 86 Jahren sowie mit
derem Gepäck befüllen, bis die Autos pickepackevoll
sind und aussehen wie Gläser mit Sülze. Anschließend
wird die Hälfte wieder aussteigen, weil sie noch was
vergessen hat. Dann wieder rein. Und raus. So geht das
1 In Managerkreisen sagt man dazu interessanterweise «low key».
Meine Lieblingsmanagerbegriffe: Meint jemand, eine Vertrags-verhandlung oder ein Geschäftsabschluss sei schwierig zu erreichen, so nennt er das einen «uphill fight». Das Gegenteil, einen leicht zu erreichenden Erfolg, bezeichnet man gerne als «low hanging fruit», was im E-Mail-Briefverkehr natürlich mit LHF ab-gekürzt werden muss. Die assoziative Nähe dieser Formulierung zu «Affenhaus» kann einem nicht verborgen bleiben.
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ein Weilchen, bis Onkel Raffaele der Kragen platzt und
er einfach aufbricht. Die anderen werden eingeschüch-
tert hinterherfahren, und mindestens ein Auto kehrt
nach zwanzig Minuten zurück, um die Nonna einzula-
den, die in den Urlaubswirren am Straßenrand verges-
sen wurde. Früher hatte ich immer Angst vor diesem
Chaos, inzwischen freue ich mich auf dieses Ritual. Am
späten Nachmittag soll es losgehen.
Am Vormittag kommt Saras Cousin Marco vorbei. Mit
ihm verbindet mich seit Jahren so etwas wie eine
Freundschaft. Nach heftigen Umarmungen und brü-
derlichen Küssen fasst er die Ereignisse des letzten
halben Jahres zusammen und ruft dann seinen Freund
Fabio an. Die beiden sprechen so sieben- oder achtmal
pro Tag miteinander. Wenn sie das nicht machen,
müssen sie sterben. Er erreicht ihn auf Sardinien. Fabio
schwärmt offenbar ein wenig vom Strand und den hüb-
schen Frauen, Marco berichtet, dass ich da sei. Dann
beenden sie ihr Gespräch.
«Fabio ist auf Sardinien?»
«Quatsch, der ist zu Hause in seinem Wohnzimmer.»
Das verstehe ich nicht. Wie kann der Bursche gleich-
zeitig auf Sardinien und zu Hause sein? Marco erklärt
mir, dass Fabio sich gar keinen Urlaub leisten könne.
Er arbeitet in der Casa Circondariale di Larino. Hinter
diesem malerischen Begriff verbirgt sich das Gefängnis
außerhalb von Campobasso. Man fährt manchmal da-
ran vorbei. Es ist ein riesiger Komplex mitten im Nir-
gendwo. An den Fenstern hängen die Insassen ihre
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Handtücher auf, das sind die einzigen Farbtupfer auf
dem ansonsten grauen Bau. Fabio ist dort Koch. Kein
toller Job, aber immerhin. Jedenfalls reicht es nicht, um
am sardischen Strand zwei Wochen lang einen auf di-
cke Hose zu machen.
«Du meinst, er tut nur so, als sei er in Urlaub, und in
Wirklichkeit ist er zwei Wochen in seiner Wohnung?»
«So ist es.»
Dann erklärt Marco mir, dass Fabios Art des Som-
merurlaubs in Italien überhaupt nicht ungewöhnlich
sei. Wenn man ihm glauben darf, gibt es besonders in
den Großstädten viele Singles, die vorgeben, in die Fe-
rien zu fahren, aber in Wahrheit zu Hause bleiben. Sie
kaufen für zwei Wochen ein, klappen die Fensterläden
zu und tauchen unter. Auf diese Weise entgeht ihnen
nicht nur der Sonnenschein in Sardinien, sondern auch
der in ihrem Heimatort.
Wenn sie zu Hause angerufen werden, gehen diese
Feriensimulanten nicht dran. Klingelt hingegen das
Handy, beschreiben sie ausführlich den Seeblick, den
sie gerade nicht haben. Manche überzeugen sich selbst
von ihren eigenen Schilderungen, sodass sie, wenn sie
nach vierzehn Tagen wieder aus dem Haus gehen, sa-
genhaft erholt wirken und es auch tatsächlich sind. Ich
finde das deprimierend. Marco klärt mich darüber auf,
dass es für die Betroffenen noch viel deprimierender
sei, in den Ferien alleine durch die Straßen zu laufen
wie Bettler. Da ziehen sie sich lieber zurück.
Natürlich weiß man als Freund oder Nachbar ganz
genau, wenn einer nicht in die Ferien gefahren ist. Aber
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man würde nie vorbeigehen und klingeln oder anrufen
und sagen: «Hey Kumpel, ich weiß, dass du da bist.»
Dabei würde der Zuhausebleiber das Gesicht verlieren.
Also telefonieren Marco und Fabio
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