Antonio im Wunderland
oberster Priorität. Ich sage
ihm, dass ich wieder anrufe, und bespreche mich abends
mit Sara. Sie versucht bei ihrer Mutter Näheres zu er-
fahren, aber die weiß auch nur, dass Antonio seit eini-
gen Tagen verrückt spielt, immer nur von Amerika
spricht und dass er dort etwas zu erledigen habe. Sie
macht sich Sorgen, und darum sage ich am nächsten
Tag zu. Wir fahren Mitte November, in sechs Wochen.
Ob ich es bereuen werde oder nicht: Er ist mein
Schwiegervater, und ich muss auf ihn aufpassen.
Nach ein paar Tagen kommen per Post Instruktio-
nen. Antonio hat genau aufgelistet, was ich einpacken
soll. Wie bei der Klassenfahrt. Was steht da? Ich rufe
ihn an.
«Toni, hier steht Kleingeld zum Telefonieren. So ein
Unsinn, die haben doch ganz anderes Geld. Die bezah-
len da mit Dollar.»
«Weißi auch, aber musst du wechseln und brauchst
Gelde dafur. Stimmte oder habi Recht?»
«Ich nehme keine Haarbürste mit.»
«Wieso nick?»
«Weil ich keine Haare habe, die ich damit bürsten
könnte.»
«Aber ihabe.»
«Dann nimm du eine Haarbürste mit.»
«Mein Koffer iste voll.»
«Hast du etwa schon gepackt?»
«Na sicher!», heult er los. Es sind noch fünf Wochen
bis zur Abreise.
Zwei Wochen bevor wir aufbrechen, ruft Antonio
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atemlos an und beschwört mich, meinen Reisepass ver-
längern zu lassen. Ich beruhige ihn und schaue trotz-
dem mal nach: Er ist noch vier Jahre lang gültig, alles
easy. Ich soll ihm den entsprechenden Eintrag aus mei-
nem Pass vorlesen, und da reicht es mir.
«Jetzt mach aber mal ’n Punkt. Du tust ja so, als woll-
ten wir auswandern.»
«Nee, is wichtig bittesehr.»
«Du musst mir vertrauen. Ist denn dein eigener Pass
noch gültig?», frage ich ihn zum Spaß. Nach seinem
Theater die ganze Zeit halte ich das für eine rhetorische
Frage.
«Momentma.» Ich höre ihn herumkramen und «Uu-
uuuuursulaaaaa» rufen, und nach einer Ewigkeit
kommt er wieder an den Apparat. «Dä is abgelaufen!
Porca miseria! Muss Schluss macke.»
Dann höre ich drei Tage nichts von ihm. Das bedeu-
tet normalerweise kein Unheil, aber in Anbetracht sei-
ner panikartigen Reisevorbereitungen ist das schon
ziemlich merkwürdig. Auf meine Anrufe reagiert er
auch nicht. Schließlich das erlösende Klingeln. Anto-
nio teilt mit, dass er mitkommen kann. Später erfahre
ich, dass er einen zweitägigen Sitz- und Hungerstreik
im italienischen Konsulat hingelegt hat, um rechtzeitig
an einen neuen Pass zu kommen (der alte wurde nicht
verlängert, weil man weder die Buchstaben darin ent-
ziffern noch sein Bild erkennen konnte). Ich komme in
den Genuss der Videoaufzeichnung einer regionalen
Nachrichtensendung, die meinen Schwiegervater zeigt,
wie er am zweiten Tag seiner Konsulatsbesetzung von
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Ursula mit Suppe gefüttert wird. Dann sieht man noch,
wie ihm der neue Pass überreicht wird und er all seine
vielen Goldzähne in die Kamera hält.
Wir fahren gemeinsam zu meinen Schwiegereltern.
Sara wird die Woche, die unsere Reise in die USA dau-
ern soll, bei Ursula verbringen. Sie freut sich darauf,
denn so kann sie endlich mal mit ihrer Mutter alleine
sein, ohne dass Antonio sich ständig in alles einmischt.
Sie ist nach wie vor nicht sehr scharf auf seine Gegen-
wart. Und sie wird ihre Schwester sehen, denn Lorella
ist vor kurzem mit Jürgen aus Südafrika zurück und
wohnt bei meinen Schwiegereltern, bis das Kind da ist.
Lorella hätte es schick gefunden, wenn ihr Sohn ein
kleiner Südafrikaner geworden wäre, aber Jürgen woll-
te, dass sie ihn in Deutschland bekommt, denn im Aus-
land wisse man ja nie, und bei den Hottentotten da un-
ten sollte man Vorsicht walten lassen, und die medizi-
nische Versorgung sei bei uns immer noch top, und das
müsse man ausnutzen, wenn man schon das Privileg
habe, aus einem der reichsten Länder der Welt zu
kommen. Jürgen ist sehr klug. Er kann Wischblätter
montieren.
Ich habe alles dabei, was Antonio mir aufgeschrie-
ben hat, außer dem kleinen Topf, dem Gaskocher und
dem Schlafsack. Ich bin sicher, wir werden in Amerika
ein Bett und warmes Essen auftreiben. Auch den Honig
habe ich nicht eingepackt. Den hat er für mich aufge-
schrieben, er selbst mag gar keinen. Er nennt Honig
beharrlich «Bienenscheiße».
Im Hause Marcipane ist Schwager Jürgen ziemlich
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schlecht drauf. Gleich nach seiner Ankunft ging er in
den Keller, um nachzusehen, was sein Wein macht. Er
hatte ihn vor dreieinhalb Jahren bei
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