Anubis 02 - Horus
hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Fahrt einfach kein Ende nehmen wollte.
Jetzt hatten sie ihr Ziel erreiht, und Bast sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Die Straße, in der Fayes winzige Hinterhof-Wohnung lag, war an beiden Enden abgesperrt, und eine kleine Armee von Bobbys bildete nicht nur einen grimmigen Absperr-Ring vor der schmalen Toreinfahrt, sondern versuchte auch – mit mäßigem Erfolg – der immer größer werdenden Masse der Schaulustigen und Gaffer Herr zu werden, die sie belagerte.
Aber es waren nicht einfach nur Schaulustige. Etwas hatte sich geändert seit jener Nacht, als sie vor Liz’ Leichnam gestanden hatte. Auch diese Leute hier waren von der bloßen Neugier und der morbiden Faszination der Gewalt, die anderen angetan wurde, angezogen worden, aber das war nicht alles. Etwas Neues war dazugekommen. Diese Leute hier hatten Angst. Und sie suchten einen Schuldigen.
Der Wagen hielt mit einem klirrenden Ruck und dem protestierenden Schnauben und Hufeschlagen der Pferde an, die viel zu brutal abgebremst worden waren, und Abberline stieß die Tür auf und gebot ihr mit einer hastigen Geste, zurückzubleiben. Bast beobachtete, wie er mit wenigen raschen Gesten dafür zu sorgen versuchte, dass die Beamten eine Gasse durch die Menschenmenge für sie bahnten. Offensichtlich gingen seine Überlegungen in eine ganz ähnliche Richtung wie ihre eigenen.
Sie ging dennoch kein Risiko ein. Im gleichen Augenblick, in dem sie den Wagen verließ, schlüpfte sie in eine andere Gestalt, und jedermann, der jetzt in ihre Richtung blickte, sah nichts als einen weiteren Bobby mit Cape und hohem Helm, der Abberline folgte. Jeder außer Abberline selbst – und möglicherweise der Linse einer Kamera, die vielleicht in diesem Moment auf sie gerichtet war.
Abberline wedelte ungeduldig mit der Hand, ihm zu folgen, wirkte aber zugleich auch schon wieder verblüfft und ein wenig misstrauisch. Er sah sie so, wie sie wirklich aussah, und er konnte auch nicht wissen, was alle anderen in seiner Umgebung wahrnahmen, aber er spürte zweifellos, dass etwas Sonderbares vorging.
Bast ging so schnell weiter, dass ihm gar keine Zeit zum Nachdenken blieb. Die Beamten vor dem Tor wichen respektvoll vor dem Inspektor und ihrem unbekannten Kollegen zur Seite, und Bast trat in den Schatten des Torbogens. Ihr Herz begann mit jedem Schritt über das Kopfsteinpflaster schneller zu schlagen. Licht drang aus einer Türöffnung in das Dunkel des Hinterhofs. Es war Fayes Wohnung, und Bast fühlte sich plötzlich elend, zugleich aber unglaublich zornig. Sie hatte es ja gewusst. Es war noch keine zwei Stunden her, da hatte sie Maistowe gesagt, dass Horus ganz genau das tun würde: alles und jeden vernichten, der ihr auch nur irgendetwas bedeutete. Und doch fühlte sie sich jetzt, als hätte sie selbst Faye getötet. Faye, die …
… sich gleichen Moment herumdrehte, in dem Bast das hoffnungslos überfüllte Zimmer betrat, und sie aus leeren, vom Weinen verquollenen Augen anblickte.
»Faye?«, murmelte sie verwirrt.
»Kennen wir …« Faye brach ab, und ihre Augen weiteten sich, als Bast mit einiger Verspätung endlich daran dachte, ihre Tarnung aufzugeben und wieder in ihre wirkliche Gestalt zu schlüpfen.
»Bast?«, flüsterte sie verstört.
Bast war im allerersten Moment nicht weniger sprachlos als sie. Sie war in der festen Überzeugung hierhergekommen, Fayes geschändeten Leichnam identifizieren zu müssen, aber jetzt stand Faye unversehrt und nur zu Tode erschrocken vor ihr.
Bast überwand endlich ihre Überraschung und sah sich aufmerksam um. Außer Faye und ihr selbst befanden sich noch fünf weitere Personen in dem winzigen Kämmerchen. Vier davon waren uniformierte Polizisten, der fünfte niemand anderes als James Monro höchstselbst. Er trug einen eleganten schwarzen Frack, Rüschenhemd und Fliege und einen Zylinder, der hoch genug war, um beinahe gegen die Decke zu stoßen. Und er starrte sie mindestens ebenso verblüfft an wie sie gerade Faye.
Dann schlug seine Verwirrung urplötzlich in Zorn um. »Was, zum Teufel, tun Sie denn hier?«, fauchte er. »Hatte ich nicht ange ordnet, dass diese Person unverzüglich in Gewahrsam genommen wird?«
Bast begriff erst mit einer Sekunde Verspätung, dass Monros Zorn nicht wirklich ihr galt, sondern Abberline, der halb hinter, halb neben ihr stand und vergeblich versuchte, sich in ein Zimmer zu quetschen, in dem einfach kein Platz mehr für ihn war.
»Ich weiß, Monro«,
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