Anubis - Roman
gelangen, und auch keine komplizierte Verkleidung. Vielleicht brauchte sie keinen Vorwand mehr, um in seine Träume zu gelangen, denn sie hatte immer darin gelebt.
Langsam kam sie näher. Türen und Fenster seiner schäbigen Hütte waren geschlossen, aber ihr Haar bewegte sich dennoch, als spiele der Wind damit. Vielleicht war es aber auch gar kein Haar, sondern ein Gespinst aus haarfeinen, lebenden Schlangen, deren augenlose Schädel blind umhertasteten.Hörte er nicht ein ganz leises Schaben und Kratzen, wie von Tausenden kleiner, schuppiger Leiber, die sich gierig aneinander rieben?
»Es scheint, dass du jeder Frau Unglück bringst, die deinen Weg kreuzt«, sprach Janice weiter, während sie näher kam und schließlich neben seinem Bett stehen blieb.
Mogens versuchte sich zu bewegen, aber es war ihm unmöglich, und als er an sich herabsah, erkannte er auch, warum: Er hatte keine Hände und Füße mehr. Seine Glieder waren mit dem zerschlissenen Bettzeug verwachsen, als hätte das Professor! Hören Sie mich? fadenscheinig gewordene Leinen angefangen, sein Fleisch zu verzehren. Leintücher? Aber sie hatten keine Leintücher benutzt, sondern …
»Aber ich wusste immer, dass du ein Versager bist«, fuhr Janice’ Stimme unerbittlich fort. »Ein liebenswerter Versager, aber trotzdem ein Versager. Kein Mann, auf den eine Frau in Not sich verlassen sollte.« Ihr Schlangenhaar wippte zustimmend, und auch Graves, der bisher schweigend und vollkommen reglos dagestanden und ihn aus Augen angestarrt hatte, die die eines Schakals waren, nickte zustimmend.
»Erst ich, und nun die arme Miss Preussler«, sagte Janice. »Zwei von zwei, das kann man nun wirklich nicht als gute Erfolgsbilanz bezeichnen. Nicht einmal vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«
»Ganz besonders nicht vom wissenschaftlichen Standpunkt aus«, pflichtete ihr Graves bei. Er paffte eine seiner starken schwarzen Zigaretten, und sein Gesicht verschwand im gleichen Maße hinter schleimigen grauen Wolken, wie es sich darin aufzulösen schien. Mogens, verdammt, wach auf! Er begann seine Handschuhe auszuziehen. Die Finger, die darunter zum Vorschein kamen, waren keine Finger, sondern Bündel von dünnen, augenlosen Würmern, zu unterschiedlich langen Zöpfen verflochten, sodass sie in die Finger ihres schwarzledernen Gefängnisses passten, und doch jeder für sich von einer eigenen, tückischen Intelligenz beseelt, die nur aus einem einzigen Grund existierte: zu zerstören und zu vernichten.
Er versuchte erneut, sich zu bewegen, und konnte es nun weniger denn je. Nicht nur seine Hände und Füße, sondern auch seine Arme und Beine hatten sich in graues Leinen verwandelt, von dem gelbliche, noch nicht gänzlich geronnene Einbalsamierungsflüssigkeit tropfte. Ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen und Brausen lag mit einem Mal in der Luft, und Janice kam noch näher. Unter ihren Schritten bebte die Erde. Wach auf, um Himmels willen! Ihr Haar bauschte sich, eine Million winziger augenloser Kobras, die sich zum Angriff aufstellten …
… und Mogens erwachte endgültig. Der Wahnsinn zog sich lautlos und schnell wieder in die finsteren Gefilde zurück, aus denen er emporgestiegen war, nicht besiegt, aber für den Moment geschlagen, und die Atem abschnürende Irrealität seines Albtraums gerann wieder zu der kaum weniger bedrückenden Realität seiner Hütte. Janice war verschwunden und Graves auf geheimnisvolle Weise von seinem Platz an der Tür direkt an die Seite seines Bettes gelangt. Seine Augen waren nun wieder die eines Menschen, nicht länger als die eines Schakals, und auch seine Hände waren nun wieder – seine Hände! Großer Gott, seine Hände!
Mogens fuhr mit einem Schrei hoch und starrte seine Hände und Füße an, die sich in Klumpen aus unansehnlichem grauem Leinenstoff verwandelt hatten. Die faserige Masse hatte sein Fleisch gefressen und seine Knochen absorbiert und begannen nun …
»Mogens! Um Himmels willen, so beruhige dich doch! Es ist alles in Ordnung! Es war nur ein Traum!«
Graves’ in schwarzes Leder gehüllte Handschuhe drückten ihn mit sanfter Gewalt wieder auf das verschwitzte Bettzeug zurück, und er sagte noch einmal: »Es war nur ein Traum.«
Ein Teil von ihm wusste, dass Graves die Wahrheit sprach – der Teil von ihm, der ihn auch unten in den Katakomben davor bewahrt hatte, endgültig dem Wahnsinn anheim zu fallen; der Wissenschaftler, der sich trotz allem bemühte, die Dinge noch sachlich zu sehen und
Weitere Kostenlose Bücher