Anubis - Roman
kommen. Wir beide kannten das Risiko. Miss Preussler hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf sie sich einlässt.«
Graves setzte zu einer sichtlich noch schärferen Antwort an, überlegte es sich aber dann anders und stand mit einem Ruck auf. »Niemand hat sie gezwungen, vergangene Nacht zu uns herunterzukommen. Ganz im Gegenteil. Ich hatte es ihr ausdrücklich untersagt!« Er schnitt Mogens mit einer herrischen Geste das Wort ab, als er widersprechen wollte, mäßigte aber trotzdem seinen Ton, als er fortfuhr: »Du bist im Moment erregt, Mogens. Das kann ich verstehen, nach allem, was du mitgemacht hast. Ruh dich eine Weile aus. Ich komme später noch einmal zu dir, und dann reden wir. Ich habe interessante Neuigkeiten.«
Obwohl er zugeben musste, dass Graves vollkommen Recht hatte, was seine körperliche Verfassung anging, dachte Mogens überhaupt nicht daran, den Rat zu beherzigen und sich auszuruhen. Ganz im Gegenteil wartete er nur, bis Graves die Hütte verlassen hatte, bevor er die Beine aus dem Bett schwang und aufstand. Der morsche Bretterboden war so kalt, dass ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Die Decke glitt endgültig von seinen Schultern und fiel zu Boden. Mogens versuchte danach zu greifen, aber seine bandagierten Hände brachten nicht das nötige Geschick auf. Missmutig betrachtete er das zerknüllte Tuch zu seinen Füßen und hielt dann noch missmutiger nach seinen Kleidern Ausschau. Er entdeckte sie als Haufen unordentlicher Lumpen neben der Tür, schlurfte mühsam hin und bückte sich noch mühsamer danach, nur um festzustellen, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Es waren nur noch Fetzen. Hose, Jackett, Weste und Hemd waren wie von skalpellscharfen Klingen zerschlitzt und so überreich mit eingetrocknetem Blut getränkt, dass der Stoff wie trockenes Herbstlaub knisterte, als er ihn hochhob. Nichts davon war noch zu gebrauchen. Selbst die hausfraulichen Künste einer Betty Preussler hätten wohl nicht mehr ausgereicht, diese Schäden zu reparieren.
Wäre sie noch da gewesen.
Eben, als er mit Graves gesprochen hatte, war er einfach nur zornig gewesen, zornig auf das Schicksal und zutiefst empört über Graves’ zynisch-unmenschliche Reaktion, aber nun überkam ihn eine tiefe, schmerzende Trauer, als er an sie dachte. Wie oft hatte er sie insgeheim verflucht, wenn sie ihm mit ihren Nachstellungen und ihrem gluckenhaften Gehabe auf die Nerven gegangen war! Wie oft hatte er ihr die Pest an den Hals gewünscht, wenn er von der Universität nach Hause gekommen war und festgestellt hatte, dass sie wieder einmal seine Sachen durchwühlt und seine Korrespondenz einer gründlichen Inspektion unterzogen hatte! Mehr als einmal hatte er sich bei dem heimlichen Wunsch ertappt, sie möge an einem ihrer verfluchten Zimtplätzchen ersticken, mit denen sie ihm auf Schritt und Tritt auflauerte, oder über ihren allgegenwärtigen Putzeimer stolpern und sich den Hals brechen – aber eines hatte er ihr ganz gewiss nicht gewünscht: den Tod.
Und schon gar nicht auf diese Weise.
Mogens versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, erreichte damit aber eher das genaue Gegenteil. Seine Erinnerungen an die vergangene Nacht waren noch immer lückenhaft, und er mutmaßte, dass das nicht von ungefähr kam; möglich, dass ihn sein Bewusstsein aus gutem Grund vor den allerschlimmsten Bildern beschützte, weil er sonst Schaden daran genommen hätte. An eines aber erinnerte er sich plötzlich mit vollkommener Klarheit: Betty Preusslers gellende Schreie und den Ausdruck absoluten Entsetzens, den er in ihrem Gesicht gelesen hatte, als das Ungetüm sie gepackt und davongeschleift hatte.
Warum war sie auch nur dort hinuntergekommen? Großer Gott, nach allem, was geschehen war, hatte ihr etwas so Lächerliches wie eine Kanne Kaffee, die sie ihnen gegen ihren erklärten Willen bringen wollte, den Tod gebracht!
Wer nicht hören will …
In diesem einen Punkt hatte Graves sogar Recht, auch wenn die Art, auf die er seine Argumente vorgebracht hatte, aufs Höchste verachtenswert war. Niemand hatte Miss Preussler gebeten, vergangene Nacht in den Tempel zu kommen. Niemand hatte sie gebeten, ihm von Thompson aus hierher zu folgen – nein, verbesserte er sich in Gedanken: ihn zu ver folgen! –, und niemand hatte ihr geraten, hier zu bleiben, nachdem all diese schrecklichen Ereignisse ihren Anfang genommen hatten.
»Es war nicht meine Schuld«, sagte er, an das Janice-Ding gewandt, das noch immer in den
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