Anubis - Roman
wenigstens denAnschein von Vernunft zu wahren, eine Erklärung zu finden, und sei sie noch so unwahrscheinlich. Aber dieser Teil von ihm wurde leiser, verlor an Kraft und vor allem an Überzeugung . Spätestens dort unten, in der Dunkelheit des Hieroglyphengangs, hatte er eine Grenze überschritten, hinter der es keine wirkliche Umkehr mehr gab; zumindest nicht, ohne etwas mitzubringen.
Mit klopfendem Herzen betrachtete er seine Hände. Natürlich hatten sie sich nicht in graues Einbalsamierungstuch verwandelt – dazu taten sie viel zu weh –, aber es waren dennoch nicht mehr die Hände, die er kannte. Jemand hatte sie mit offensichtlich großer Mühe, dafür aber umso weniger Geschick verbunden. Die Bandagen aus nicht wirklich sauberem Verbandmull saßen so fest, dass es ihm vollkommen unmöglich war, auch nur einen Finger zu bewegen.
»Mach dir keine Sorgen, Mogens«, sagte Graves, als er seinen Blick bemerkte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen machte er sich Sorgen, auch wenn er mit einem gezwungenen Lächeln und in ebenso unecht wirkendem, optimistischem Ton fortfuhr: »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Janice, die immer noch irgendwie unsichtbar in den Schatten stand und ihm zuhörte, schüttelte stumm den Kopf, und der Blick ihrer unheimlichen, leuchtenden Schakalsaugen bezichtigte ihn einer Lüge, die auch Mogens schon erkannt hatte.
»Es fühlt sich schlimm an«, murmelte er.
Graves bemühte sich weiter nach Kräften um Gesichtsausdruck und Tonfall eines Vaters, der seinem Sohn zu erklären versucht, dass die Welt nicht untergeht, weil er sich einen Splitter eingerissen hat. »Ein paar Kratzer«, behauptete er. »Hässlich, und ich nehme an, dass sie auch ziemlich wehtun, aber halb so schlimm. Tom hat deine Hände verbunden.« Er verzog die Lippen. »Er ist ein guter Junge mit einer Menge unterschiedlicher Talente, aber ich fürchte, zum Krankenpfleger ist er weniger geeignet.«
Mogens blieb ernst und hob die Hände vor das Gesicht, um sie noch einmal und eingehender zu betrachten. Es warnicht verwunderlich, dass er die Finger nicht bewegen konnte. Tom musste tatsächlich so etwas wie der untalentierteste Krankenpfleger der Welt sein, denn er hatte seine Finger kurzerhand zusammengebunden, sodass seine Hände aussahen, als steckten sie in grob genähten Fäustlingen. Mogens fragte sich, ob es sich dabei tatsächlich nur um Ungeschick handelte oder ob es vielleicht einen Grund dazu gab. Das Fleisch, das er unter dem schmuddeligen Verbandmull nicht sehen konnte, brannte jedenfalls, als hätte er die Hände in Säure getaucht.
Seltsam. Er erinnerte sich gar nicht, sich die Hände verletzt zu haben …
Dafür erinnerte er sich plötzlich umso deutlicher an blitzende Fänge, die nach seinem Gesicht schnappten, und rasiermesserscharfe Klauen, die ebenso mühelos und schnell wie ein chirurgisches Präzisionsmesser durch sein Fleisch geglitten waren.
Die Erinnerung weckte den Schmerz. Mogens setzte sich mit einem Ruck abermals auf, wodurch nicht nur das Brennen in seiner Seite zu noch größerer Qual aufloderte, sondern auch die dünne Decke von seinen Schultern glitt. Darunter war er nackt, wenigstens zum großen Teil. Wo seine zerschundene und schmutzige Haut nicht sichtbar war, erblickte er straff angelegte Verbände aus demselben grauen Verbandmull, mit dem auch seine Hände umwickelt waren.
»Eigentlich müsste doch für dich jetzt ein Traum in Erfüllung gegangen sein«, griente Graves. Mogens starrte ihn finster an, aber Graves’ Grinsen wurde nur noch breiter. »Wahrscheinlich bist du der erste Archäologe der Welt, der aus eigener Erfahrung weiß, wie sich eine Mumie fühlt«, erklärte er, während er sich gemächlich zurücklehnte und sich mit umständlichen Bewegungen eine Zigarette anzündete, den Umstand, dass er sich an einem Krankenlager befand, geflissentlich ignorierend.
Mogens versuchte, sich noch weiter aufzurichten, ließ es aber bleiben, als ihm leicht schwindelig wurde. Außerdem bemerkte er nun, dass er auch unter der Decke auf seinen Hüften nichts weiter trug als die Verbände – die ihm tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ägyptischen Mumie verliehen, wie er widerwillig eingestehen musste –, und es wäre ihm peinlich gewesen, nackt vor Graves zu stehen; auch wenn das nun wirklich albern war. Vermutlich war es Graves gewesen, der ihn ausgezogen hatte.
So klein seine Bewegung auch gewesen sein mochte, reichte sie doch offensichtlich aus,
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