Anubis - Wächter im Totenreich
Historie erlebte Ghamal jetzt hautnah mit. Er konnte die Barke sehr genau erkennen, obwohl auf ihrem Deck kein einziges Licht brannte. Es war der grüne Schakalkopf, der genügend Helligkeit abgab, und gleichzeitig lag auch ein seltsames Leuchten um das Schiff herum.
Von außen drang es nicht, sondern schien von innen aus dem Rumpf zu kommen.
Irgendwie geheimnisvoll und lockend.
Ghamal bewegte sich nicht. Wie er dastand, glich er einer Statue, und er konnte nur nach vorn schauen, um zu sehen, was weiterhin geschah. Sein eigenes Segel hatte er vergessen. Er merkte, wie das Boot schwankte und auch abgetrieben wurde, aber er starrte noch immer auf diese unheimliche Totenbarke, die näher und näher kam. Erschreckend schnell holte sie auf.
Ghamal betete zu Allah, schüttelte den Kopf, schaute sich um, aber er war längst viel zu weit vom Ufer entfernt, um hinschwimmen zu können. Die Totenbarke hätte ihn immer eingeholt.
Plötzlich erwachte er aus seiner Erstarrung. Sein innerer Wecker schlug Alarm. Er mußte sich auf sich selbst verlassen und durfte einfach nicht mehr nur stehen und zusehen.
Wegsegeln!
Was es noch möglich?
Neben dem einfachen Mast blieb er stehen. Aus großen Augen schaute er an dem schief sitzenden Dreieckssegel vorbei nach vorn und sah einen gewaltigen Schatten, der über das Wasser glitt und auch durch zahlreiche Lichter erleuchtet war.
Ein Schiff.
Sogar ein riesiges. Ein Passagierschiff, das wahrscheinlich mit Touristen besetzt war.
Diese Schiffe waren tagelang unterwegs und besaßen als Komfort den Standard internationaler Luxus-Hotels. Dementsprechend hoch lagen auch die Preise.
Da das Schiff stromab fuhr, kam es dem jungen Mann im ersten Moment noch unheimlicher vor als die Totenbarke aus der altägyptischen Zeit. Und es war für ihn auch gefährlicher, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß dieses gewaltige Schiff wendig genug war, um seinem kleinen Boot auszuweichen.
Das andere Schiff würde sein eigenes zermalmen, wenn es zu einer Kollision kam.
Ghamals Angst steigerte sich noch.
Hinter ihm die unheimliche Barke, vor ihm das moderne Passagierschiff, das den Nil befuhr. Zwei Seiten, zwei Epochen, die sich begegnen würden, und er befand sich im wahrsten Sinne des Wortes haargenau dazwischen.
In der nächsten Minute mußte er sich entscheiden. Die Dunkelheit lag sehr dicht über dem breiten Strom, so daß Ghamal nur schätzen konnte, welches Schiff ihm am nächsten war.
Ghamal schaute sich um.
Die Totenbarke hielt Kurs. An ihrem Bug sah er zahlreiche Gestalten. Nicht sehr groß, sie konnten kaum über die Reling schauen, und er stellte fest, daß es sich bei ihnen um Mumien handelte. Die Entfernungen schmolzen. Vielleicht hatte man sein Boot auf dem Passagierschiff nicht gesehen oder war einfach zu überrascht von der unheimlichen Totenbarke aus der Vergangenheit, jedenfalls reagierte die Besatzung des Passagierschiffes nicht. Kein Horn erklang, und es gab auch keinen Scheinwerfer, der über die Wellen geisterte. Die Minute schrumpfte zu Sekunden zusammen.
Ghamal mußte sich entscheiden, wollte er nicht wie ein Getreidekorn zwischen den Mühlrädern zermalmt werden.
Er entschied sich.
Mit einem Satz erreichte er den Rand seines Bootes, knickte noch einmal in den Knien ein und stieß sich ab.
Es war ein gewaltiger Sprung, der ihn über die Reling katapultierte. Für einen Moment sah er die gurgelnde Strömung, und er bekam auch Angst, in den Sog der Schiffe zu geraten, dann schluckte ihn das schwarze Wasser.
Wie ein Stein sackte er ab. Er wurde dem Grund entgegengedrückt. Kurz bevor er ihn erreichte, führte er die ersten Schwimmbewegungen durch, geriet auch mit den Füßen in den Schlamm, wühlte ihn zu Wolken hoch, tauchte aus ihnen heraus und schwamm in einem schrägen Winkel der Oberfläche entgegen, die er hart durchstieß.
Weit riß Ghamal den Mund auf, pumpte Luft in seine Lungen, keuchte, hustete und schleuderte sein schwarzes Haar zurück, um besser sehen zu können.
Wie ein Gebirge erhob sich das gewaltige Passagierschiff vor seinen Augen. Er spürte schon die ersten Wellen, und Todesangst umklammerte sein wild pochendes Herz…
***
Jemand hatte mal die Stadt Kairo als einen Ozean aus sandfarbenen Gebäuden beschrieben.
So kam sie Suko und mir auch vor, als wir über ihr schwebten und die Maschine zur Landung ansetzte. Es war früher Mittag, so daß wir bis zur Abfahrt des Schiffes noch einige Stunden Zeit hatten. Wir würden die Nacht über
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