Apollofalter
vieles, das mich interessiert«, hatte sie gesagt. »Es muss toll sein, Menschen zu heilen, die sehr krank sind. Vielleicht hat man dann ein Heilmittel gegen denKrebs gefunden, wenn ich mit dem Studium fertig bin.«
Wie sie auf das Thema Krebs komme, wollte er wissen. Ob sie damit Erfahrung habe?
Sie nickte ernst. »Außer Irmchen hatte ich noch eine Tante. Edelgard. Die mittlere Schwester. Sie hat gemalt. Hauptsächlich Landschaften. Von ihr stammen die Bilder in deinem Zimmer.« Hannah senkte die Stimme. »Vor ungefähr zwei Jahren ist sie an Krebs gestorben. Viel zu jung.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch.« Sie nickte ein paar Mal. Über ihren Augen lag ein Schleier. »Ich hab sie sehr gemocht, die Tante Edelgard. Sie konnte nicht nur malen, sondern auch wunderschöne Geschichten erzählen. Schade, dass sie sie nie aufgeschrieben hat. Jetzt sind sie für immer verloren. Ich hab oft bei ihr gesessen, als sie schon sehr krank war und kaum noch aufstehen konnte. Das war eine schlimme Zeit. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich könnte ihr helfen. Abrakadabra – zack, ist sie wieder gesund. Wie der Zauberer im Märchen. Das wäre toll gewesen. Leider hat es nicht geklappt. Manchmal ertappe ich mich noch immer dabei, wenn ich denke: Das erzähle ich Tante Edelgard. Und im gleichen Augenblick fällt mir dann ein, dass sie ja gar nicht mehr da ist.«
Damals hatte er genau verstanden, was sie meinte. Und heute wusste er es noch besser. Nun, da Hannah nicht mehr da war.
Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, in ihren Kopf kriechen zu können. Sie waren sich so nah gewesen, wie sich zwei Menschen nur sein können.
»Hat deine Tante auch bei euch auf dem Weingut gelebt?«, hatte er Hannah gefragt
»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Sie hat unten im Dorf gewohnt. In der Nähe der Kirche. Mein Onkel und meine Cousinen wohnen noch da. Aber zu denen habe ich nicht so einen guten Kontakt.«
Er sah Hannah, wie sie einem Apollofalter nachhaschte. Wie sie eins wurde mit der Fee aus seinen Kinderbüchern. Diesem fragilen Wesen aus einer anderen Welt.
Das pelzige Tier in ihm rumorte. Gab keine Ruhe. An Schlafen war nicht zu denken. Er stand auf und schaltete den Laptop ein. Gab das Passwort ein. Verband seine Filmkamera mit dem Laptop und starrte auf den Bildschirm. Das Gerät surrte. Reihte Bilder aneinander.
Schnurgerade Rebzeilen hoch über der Mosel. Terrassen wie angeklebte Schwalbennester auf steil abfallenden Felshängen. Der Lärm eines Flugzeugs hoch oben am Himmel. Bevor Hannah ins Bild tritt, hört man ihr helles Lachen. Ein jungmädchenhaftes Giggeln. Dann ist sie da. Lachend. Unbeschwert. Sie trägt Jeans und Turnschuhe. Giggelt wieder, wehrt ab. Schneidet Grimassen, streckt die Zunge heraus. Dreht ihm eine Nase.
Dann hört man sie sprechen. »Ach, lass das doch.« Sie sieht verlegen aus. Ein lebendiges Mädchen. Ein lebendiges vierzehnjähriges Mädchen.
Ihr ovales Kindergesicht erscheint in Großaufnahme. Er schaltet auf Zeitlupe. Ein Lidschlag ihrer dichtbewimperten Augen. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Fast kann er die Poren ihrer Haut sehen. Eine reine Haut ohne jeden Pubertätspickel. Und ohne jede Schminke. Der zarte Hals. Das flirrende Licht in ihrem Haar. Die glänzenden Lippen, die sich langsam zu einem Kussmund formen. Der ihm gilt.
Schnitt.
Jetzt streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht. Lockiges zimtfarbenes Haar, das sie zu zwei Zöpfchen geflochten hat, aus denen sich dünne Strähnchen lösen. Die wehen ihr ins Gesicht. Sanft gerundete Schulterflügel, nur von einem schmalen Träger ihres Hemdchens bedeckt. Im Ohrläppchen trägt sie einen kleinen goldenen Stecker, in dem sich ein Sonnenstrahl verfängt. Bei diesen Aufnahmen hat sie sich unbeobachtet gefühlt. Sie haben einen ganz besonderen Reiz. Ihre Zunge schnellt hervor. Streift über die Lippen. Befeuchtet sie.
Sie hatte ihm von einem Jungen erzählt, der sie hartnäckig umschwärmte. Jemand aus ihrer Klasse, von dem sie aber nichts wollte. »Ich mag ihn schon. Als Freund. Aber nicht so ...« Ernsthaftigkeit in der Stimme. »Ich brauche jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. Richtig unterhalten, meine ich. So wie mit dir.« Dann hatte sie ihn, Kilian, angesehen.
Er drückte auf »Standbild«.
Hannah sieht ihm in die Augen. Halb lächelnd, halb fragend. Ein sehnsüchtiger Blick. Er starrt ihr Bild an. So lange, bis er es nicht mehr ertragen kann. Er lässt die Taste wieder los. Hannah löst sich aus der
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