Apollofalter
hier«, tönte es schwach aus dem Wohnzimmer. »Kommen Sie ruhig her.« Marion saß mit leerem Blick auf einem Sessel. In der Hand ein zerknülltes Taschentuch. Die Augen rotgeweint. Als die beiden zu ihr hineinkamen, hob sie den Kopf.
»Ich habe darüber nachgedacht, was Sie gesagt haben. Es ist richtig, dass Herr Kilian viel Zeit mit Hannah verbracht hat. Aber sie hat sich nie über ihn beschwert, wenn sie darauf hinauswollen, dass er zudringlich geworden sein könnte. Es war offensichtlich, dass sie ihn mochte. Sie war immer ein fröhliches Mädchen. Überhaupt nicht gedrückt oder deprimiert. Das wäre mir doch aufgefallen.« Sie sah von Franca zu Hinterhuber, die im Raum standen und bedeutete ihnen mit einer Geste, Platz zu nehmen. »Ist es nicht so, dass die Kinder leiden, wenn ihnen ein solcher Mann zu nahe kommt? Hannah hat nicht gelitten, das wird Ihnen jeder bestätigen. Sie wirkte zwar manchmal ein wenig traurig, vorher meine ich, bevor Herr Kilian ins Haus kam. Seit er bei uns ist, ist sie regelrecht aufgeblüht. Das spricht doch alles gegen ihre Verdächtigung, oder? Ich meine viel eher ...« Sie schluckte und drückte ihr Taschentuch in der Faust zusammen.
»Was meinen Sie?«, hakte Franca geduldig nach.
Marion hob die Schultern. »Na ja, sie hatte ja nie einen Vater. Und vielleicht habe ich mich auch nicht genug um sie gekümmert. Weil ich zu sehr in meine eigenen Probleme verstrickt war.« Sie sah sich vorsichtig um, ob es keine weiteren Zuhörer gab. »Ich wollte weg von hier. Alles war vorbereitet. Das Gut sollte verkauft werden. Ich war mitten in den Verhandlungen. Und jetzt ...«
Franca war überrascht. »Haben Sie mit Ihrer Mutter darüber gesprochen?«
»Mit der konnte man über so etwas nicht reden.« Marion machte eine unwirsche Handbewegung. »Sie denkt sowieso, es würde ewig so weiter gehen wie bisher. Aber mir ist es hier in diesem Dorf zu eng geworden. Ich will endlich mein eigenes Leben leben und nicht immer nur Rücksicht auf die anderen nehmen müssen. Außerdem habe ich es gründlich satt, ständig bevormundet zu werden.« Den letzten Satz hatte sie voller Bitterkeit hervorgestoßen. Sie presste die Lippen zusammen, bis sie ganz farblos waren.
»Haben Sie das denn nicht mit Ihrer Schwester und Ihrer Mutter besprochen?«
»Ich hab’s ja versucht.« Sie schnaubte. »Aber sie haben mir einfach nicht zugehört. Mutter will, dass alles genauso bleibt wie es ist. Und Irmchen hat sowieso keine eigene Meinung. Jedenfalls kommt eine Veränderung für beide nicht in Frage. Das einzige, was hilft, ist sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.« Ihre Zunge befeuchtete die farblosen Lippen. »Außerdem sind wir Frauen ständig auf Leute angewiesen, die die schwere Arbeit machen. Die arbeiten aber nicht umsonst. Das Angebot, das ich bekam, schien mir mit einem Mal die Lösung all meiner Probleme. Ein neues Leben – welch verlockender Gedanke.« Sie starrte auf das zerknüllte Taschentuch in ihrem Schoß und schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr. »Die Verhandlungen waren schon ziemlich weit gediehen. Doch jetzt stagniert alles. Langsam habe ich den Eindruck, der Käufer will sich wieder zurückziehen. Jedenfalls habe ich seit Hannahs Tod nichts mehr von ihm gehört.«
»Hat Hannah davon gewusst, dass Sie den Hof verkaufen wollen?«, fragte Franca.
Marion Lingat schüttelte den Kopf. »Niemand hat es gewusst. Ich wollte es den anderen erst sagen, wenn alles unter Dach und Fach ist.« Geräuschvoll atmete sie ein. »Vielleicht war ich auch einfach nur zu feige, mich den Diskussionen zu stellen.« In sich zusammengesunken saß sie in ihrem Sessel. Ein bedauernswertes Häufchen Unglück.
»Gab es für Sie denn keine andere Möglichkeit, das Gut zu verlassen?«, fragte Franca, um das bedrückende Schweigen zu durchbrechen.
»Sie meinen, warum ich nicht geheiratet habe?« Marion Lingat sah sie direkt an. Ihr entfuhr ein leises Lachen, das sich merkwürdig anhörte. »Sicher hab ich daran gedacht, aber na ja ... es kam alles ein wenig anders. Mutter hat natürlich immer darauf gehofft, dass eine von uns einen Mann heiratet, der hierher passt und das Gut führt. Aber egal, ob Irmchen jemanden nach Hause brachte oder ich, immer fand Mutter ein Haar in der Suppe.«
»Was sagst du denn da, Marion? Das ist doch überhaupt nicht wahr. Ich hab immer gesagt, dass hier ein Mann hergehört.« Die alte Frau Lingat war leise zur Tür hereingekommen. »Ein ordentlicher Mann, der was von Weinanbau
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