Apollonia
Volksempfänger den Reden von Adolf Hitler zuhörten, umso mehr wurde ihnen klar, dass es wieder Krieg geben würde, und dann konnten sie noch mehr Kinder verlieren. Mein Urgroßvater betete jeden Tag auf seinem Sessel einen Rosenkranz und begann darum zu beten, dass es keinen Krieg geben werde. Es begann das Jahr 1938, und immer mehr Einberufungsbefehle kamen in die Dörfer, und viele Freiwillige gingen, und Hitler verstärkte sein Heer unaufhörlich. Je mehr da draußen auf dem Haselbacher Feld die Jungen das Strammstehen mit dem Spaten und das Links-Zwo-Drei und das Hebt-das-Gewehr! übten und alles mit Heil-Hitler, umso mehr wurde klar, dass es nicht darum ging, die Sümpfe trockenzulegen und deutsche Tugenden wie Sauberkeit und Fleiß zu wahren.
Tatsächlich hatte mein Urgroßvater schon seit Tagen einen Brief daliegen, den musste er seinen Söhnen nun vorlesen.
Der Brief war von der Organisation Todt aus dem Reichsministerium, und die Organisation sollte im Auftrag von Adolf Hitler den Westwall errichten, eine Befestigung gegen den Angriff des französischen Heeres auf deutsches Territorium, immer entlang der Maginotlinie! Und alles sollte beginnen mit dem Bau der Hunsrückhöhenstraße.
Während Josef der Sache nicht traute, bot man Konrad, Dagobert, Hannes und Ewald einen ordentlichen Sold an, mehr als sie auf dem Zimmerplatz verdienten, und sollte der Krieg ausbrechen, so wären sie nicht an der Front, sondern waren nur eine Art Facharbeiter in Uniform. Sie waren gleich begeistert, denn man musste etwas tun und dabei sein, wenn es losging für Deutschland. Die Begeisterung für Hitler hatte doch jeden erfasst, nur Klemens nicht, aber Klemens war schlichtweg für nichts zu gebrauchen, er hatte keinen Verstand.
Also ließen sich die vier ihre Uniformen geben mit der breiten Armbinde mit der Aufschrift OT , und sie fragten auch gar nicht weiter nach, zogen sie sofort an und hingen sich die langen Mäntel über die Uniform.
Bevor sie also losfuhren, um die Hunsrückhöhenstraße zu erbauen, ging es nach Wällershofen zum Fotografen, und sie ließen ein schönes Bild machen, mit rausgestreckter Brust und ernster Miene schauten sie stolz ins Okular. Nur Onkel Dagobert, der sich von all seinen Brüdern die meisten Finger abgesäbelt hatte, stützte die Hand auf in einer Art Herrscherpose, sodass man nur den Handrücken sah. Er wirkte dadurch noch majestätischer, und auch seine Nase war viel größer als die der anderen. Dann fuhren sie los und fühlten sich großartig und beinahe ein wenig so wie damals, als es nach Frankreich ging. Nur manchmal kam ihnen wehmütig in den Sinn, dass es nun wieder darum ging, Frankreich zu bekämpfen, den Schong und den Schack und den Schorsche.
Meine Mutter sagte, dass sie mich mit Jim gesehen hätte, und ich brauche ihr jetzt nichts mehr vorzumachen. Auch Tante Hedwig hätte ihn gesehen, im Eiscafé in Wällershofen und danach noch beim Spazieren. Er sei ja kein schlechter Junge, soweit sie das durch das Fenster und durch den Blumenstock erkennen konnte, aber sie hätte auch schon Schönere gesehen. Und er wäre doch bestimmt ein Ami, das sähe man schon am Haarschnitt.
Jetzt war es also raus. Mein wundersames, zauberhaftes Geheimnis meiner geschwätzigen Familie preisgegeben und entweiht durch ihre nichtswürdigen Kommentare. Sie hätte auch schon Schönere gesehen. So was konnte nur meine Mutter sagen. Und dann meinte sie noch, der sei es ja wohl gewesen, der mir den Brief geschrieben habe mit dem Luftpostumschlag, aber von der Struderlehe bis nach Scholmerbach hätte man ja wohl kein Flugzeug gebraucht. Aber ich müsse schwer aufpassen, denn die Amerikaner hätten gerne mal ein Liebchen, dann würden sie versetzt, und dann hätten sie anderswo ein Liebchen, und dann hat er dich vergessen, und du sitzt da und heulst dir die Augen vor den Kopp.
Ich sagte, bei uns sei das anders, und meine Mutter schimpfte, das meint man immer, und wenn man jung ist, hängt der Himmel voller Geigen, und jedes Jahr fällt eine runter. Lass dir bloß nichts erzählen, kennst du einen, kennst du alle, erst große Liebe, und auf einmal muss er wieder nach Amerika, und aus den Augen aus dem Sinn.
Hätten wir doch im Eiscafé die dicken Gummibäume vors Fenster gestellt. Vielleicht konnte ich mit Jim auswandern, dann müssten wir uns derartigen Fragen und Verdächtigungen gar nicht mehr aussetzen. Schließlich trug ich ein silbernes Herz um den Hals und darauf stand »Für mein Kleines –
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