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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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da konnte sie es erst nicht glauben. Warum hatte sie sich im Backhaus eingeschrieben, nur für einen einzigen Laib Brot? Wozu hatte sie das Reisig gesammelt und war aufgestanden in der Frühe? Da begann in ihr die Dapprechter Wut zu schwelen. Sie stieg den steilen Boden hinab und ging in die Küche und steckte den Schürhaken ins Feuer, und stocherte so lange darin herum, bis mein Großvater aus dem Keller kam.
    – Wer in der Not das Korn verbrennt, um es zu versaufen …
    – Was dann??
    – Der gehört grün und blau geschlagen!!
    – Da ist doch noch Korn, da ist noch Brot, was willst dou dann?!
    – Den muss man umbringen!!
    – Hör dou doch offf!!
    – Totschlagen muss man so einen!!
    Meine Großmutter war wie von Sinnen und riss den glühenden Schürhaken aus dem Kohleofen und wütete gegen meinen Großvater und musste nach ihm schlagen wie nach einem Lumpenhund und das rot glühende Eisen gegen ihn erheben und ihm drohen um sein Leben.
    – Totschlagen muss man den!!!
    – Dou Dapprechter … Deiwels … Weib!!
    – Eysch bringen dich em!!
    Da merkte mein Großvater Klemens, dass es meiner Großmutter Apollonia ernst war und sie ihn mit dem glühenden Stocheisen umbringen wollte. Es war, als sei sie aus dem Höllenfeuer gesprungen und prügele ihn eigenhändig dem Teufel vor die Füße.
    Mein Großvater, der dem Weibsmensch entkommen musste, das wie eine Besessene auf ihn einschlug, nahm sie kurzerhand und hob sie hoch, sodass sie mit ihren Schlägen nur seinen Buckel traf, sich aber in der aufgehängten Wäsche über dem Kohleofen verfing und mit Unterhemden und Handtüchern weiter drosch. Mein Großvater nutzte ihre vorübergehende tobsüchtige Blindheit, um sie wieder abzustellen und zu fliehen.
    Er war noch einmal mit dem Leben davongekommen.
    Apollonia musste zusehen, dass sie ihren jämmerlichen Brotteig am Donnerstag früh ins Backhaus trug, bevor jemand sah, wie sie nur einen einzigen Laib buk, der reichte für drei Tage. Dann, so hatte Balduin versprochen, würde er ihr drei Säcke Korn bringen, denn es gab die neue Ernte, sie wollten aufs Feld gehen, das Korn stand hoch.
    Der Westerwald hatte Korn, er hatte Gerste, er hatte Weizen, er hatte Hafer. Kartoffeln, Wirsing, Erbsen, Rüben, Kappes, Beeren, Bohnen, Zwetschgen.
    Die hungrigen Frankfurter und die mageren Kölner streunten um die Äcker, und entlaufene Zwangsarbeiter versteckten sich in den Wäldern. Die Kartoffeln wuchsen quälend langsam, und die Krautköpfe suhlten sich elend lange im Sonnenschein, jede Rübe versteckte sich scheinbar für immer in der Erde, und jede Kirsche wurde von den Spatzen gefressen. Es blieben nur die Brennnesseln, die Brennnesseln vor den Sümpfen wuchsen in riesigen grünen Meeren, und Apollonia riss sie ab mit bloßen Händen, sie fuhr immer wieder in die sengenden Büsche hinein und verbrannte sich die Arme und spürte es kaum, die Brennnesselmeere machten die Leute satt. Apollonias Hände schienen für immer ein wenig versengt zu bleiben, rot außen und innen verschnitten wie von Abertausend kleinen Messern. Die Brennnesseln ergaben eine bittere Suppe und ein tiefgrünes Mus und waren wie Spinat. Man kann das essen wie Spinat, sagte meine Großmutter leichthin, mir schmeckt das genauso gut wie Wirsing, wo ist da der Unterschied? Wenn die Brennnesseln nicht gewesen wären, dann wären das ganze Dorf und alle verreckt.
    Die Brennnesseln haben mein Dorf Scholmerbach gerettet, und alle fraßen Brennnesseln, jeden Tag, um sich durchzubringen, und die Brennnesseln bedeckten das ganze Tal und wuchsen den Schafsbach entlang bis zu den Weidenhecken.
    Die Weidenhecken aber hatten die Glocke begraben, und die alten Scholmerbacher hatten an der Stelle einen Stein in die Erde gehauen, damit sie sie wiederfanden. Wer wusste schon, wie lange der Krieg noch dauerte und wie lange die Glocke noch schweigen musste und wie lange noch Stille war über den Dörfern an jedem Sonntag und an jedem Feiertag. Selbst wenn die Gefallenenliste kam und die Toten verkündet wurden, gab es keine Glocke, die um ihretwillen läutete.
    Für jeden Scholmerbacher, der gefallen war, sang mein Großvater in der Kirche ein Totenlied.
    Er sang das »Herr erbarme dich« und »Befiehl du deine Wege« und »Herr, du bist meine Zuversicht«.
    Es fielen der Otto Hering und der Hubert Klees, der Erich Schmidt, der Paul Hans, der Johannes Dapprecht, der Fritz Höhn und der Josef Theis, der Edi Hölper und der Ewald Forst, der Josef Kraus und der Josef

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