Aqualove
mit drastischen Änderungsmaßnahmen gezögert.
Plötzlich saßen wir alle im selben Boot.
„Darf ich?“, fragte ich meinen Nachbarn, der halb auf meiner Tasche gesessen hatte.
„Aber bitte.“ Ohne weitere Verzögerung widmete sich der hellhaarige Besitzer eines Trenchcoats und einer bordeauxfarbigen Aktentasche wieder seinem Schönheitsschlaf.
Ich startete das Netz auf meinem Mob und überblätterte die ganzseitigen Anzeigen für Filtersysteme und Schutzkleidung und blieb an einem Artikel mit der Überschrift „Oklahoma City umgesiedelt“ hängen. Was hatte sich der Kongress da wieder ausgedacht? „Es ist unfassbar, oder?!“
„Wie bitte?“
Die ältere Frau, die schräg hinter mir stand, schüttelte empört den Kopf, als sie auf meine Frage hin fortfuhr: „Meine Nichte wohnt in Oklahoma City. Seitdem die Siedler dort haltgemacht haben, lebt unsere Familie da. Und nun soll das alles zu Ende sein.“
Mein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein. Ich konnte ihr nicht ganz folgen. „Da!“ Sie zeigte auf den Artikel, als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass ich diese Seite aufschlug. „Die Dürre macht die Grundstückspreise kaputt, die Stadt kann die Wasseraufbereitung für Neubürger nicht mehr gewährleisten, jetzt sollen alle vor 2020 Geborenen auf Kosten des Bundes umgesiedelt werden. Alle anderen müssen selbst für einen Umzug aufkommen. Es ist eine Schande.“
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte Oklahoma City schon nach den Unabhängigkeitskriegen an die Westküste verpflanzt werden sollen. Das entsprang allerdings eher meiner Skepsis gegenüber der konservativen Lebenseinstellung dort als dem Problem des Wassermangels. Aber niemand hatte mich bisher nach meiner Meinung gefragt.
Um nicht in eine langwierige Unterhaltung hineingezogen zu werden, nickte ich nur mit erschütterter Miene und zog das Mob noch näher an mein Gesicht.
Grundsätzlich hatte die Frau recht. In den Staaten gab es seit der Wasserknappheit geradezu eine Landflucht aus den trockenen und heißen Gebieten. Texas, Arizona, Louisiana, Kansas, Arkansas. Nur Nevada hielt sich noch standhaft. Las Vegas hatte schon immer die fortschrittlichste Wasserversorgung des Landes besessen. Dieser Vorsprung hatte sich gehalten. Es war dennoch die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Staaten stritten um Wasserrechte der Flüsse, die ihr Land durchquerten. Man drohte sich gegenseitig, Staudämme zu blockieren, den Wasserfluss zum eigenen Vorteil zu kontrollieren. Die Flüsse waren die Gaspipelines der Neuzeit. Manche Staaten hingen am Tropf der anderen.
Die Rand- und Nordstaaten hatten hingegen einen drastischen Zuzug zu verzeichnen. Die Ironie war: Verseuchtes Wasser war immer noch besser als gar kein Wasser. Explodierende Bevölkerungszahlen hier, Landflucht da. Das war mittlerweile der amerikanische Albtraum. „Immerhin bezahlt der Staat noch einigen die Umsiedlung“, ließ sich jetzt ein abgerissener Typ in verschlissener Lederjacke mit Pudelmütze vernehmen, der im Gang stand. „Ich musste heute Morgen wieder zum Amt, um mir die Marken für meine monatliche Wasserration zu holen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr wurden die um ein Drittel gekürzt. Dafür stehe ich jetzt doppelt so lange an.“
„Du bekommst dein Wasser doch auch bezahlt. Geh arbeiten, du Penner, dann kannst du dir selbst ’ne Flasche kaufen.“
Binnen Sekunden befand sich das ganze Abteil inmitten einer hitzigen Diskussion über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der sogenannten „Wasserkrise“. Jeder sprach mit absoluter Autorität über seine persönlichen Erfahrungen und erhob Anspruch auf zulässige Verallgemeinerung. Im Durcheinander der sich überbietenden Argumente stellte ich auf Durchzug.
Tatsache war, dass die Krise mittlerweile keine Krise mehr war, sondern eine ausgewachsene Katastrophe. Krise klang nach möglicher Überwindung, Katastrophe enthielt die Qualität Super-GAU. Das war der mediale und faktische Unterschied.
Jeder, der zum Fenster hinaussah, wusste, dass unser Land sich drastisch verändert hatte und dass uns das schmutzige Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stand. Das Bewusstsein für diese Katastrophe war da. Aber ob und wie lange die letzten Wasserreserven reichen würden, war fraglich.
Das Treiben in der Bahnhofshalle wirkte nach der Kakofonie im Zug fast wie ein Stillleben. Am Zentralbahnhof angekommen, nahm ich mir auf dem Weg zum Hotel vor, mir bald ein Auto zuzulegen. Ich
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