Aquila
Möbelpolitur. Die Kaffeeflecke waren weg, die Küche sah aus wie neu. Und von George Washington war nicht ein einziges winziges Stäubchen übrig geblieben; auf seinem glänzend polierten Sockel prangte nun an Stelle der Büste ein üppiger Farn.
»Meine Bude hat noch nie – ich wiederhole: noch nie – so gut ausgesehen. Aber bei meinem George Washington mussten die Heinzelmännchen passen. Manche Dinge sind eben nicht zu 315
ersetzen.« Der Gedanke verlieh ihm eine gewisse Zufriedenheit; denn wer immer sie sein mochten, sie waren nicht allmächtig.
Polly lächelte. »Solche Aufgaben erledigen sie im
Allgemeinen sehr gut – wie in diesem Fall.«
»Das klingt ja, als wüsstest du Bescheid. Ist das so?«
»In meinem Beruf kriegst du ein Gefühl für so was:
Decknamen, neue Identität, totgeschwiegene Affären, Mord, Kidnapping und so weiter. Manche Leute verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Aber ich kenne keine Namen …«
Chandler bedachte sie mit einem forschenden Seitenblick. Er bohrte nicht mehr nach. Vielleicht wollte er es gar nicht so genau wissen.
Nachdem sie das ganze Haus inspiziert hatten, das vom Keller bis zum Dachboden blitzte, riefen sie von seinem Arbeitszimmer aus verschiedene Krankenhäuser an.
Beim vierten Anruf hatten sie Erfolg. Sozusagen. Denn Hugh Brennan war dort Patient.
»Bitte stellen Sie mich zu seinem Zimmer durch«, sagte Chandler und dankte Gott.
»Tut mir leid, Sir, das geht nicht.«
»Warum? Ist er zu krank, oder ist das Telefon kaputt?«
»Ich darf über seinen Zustand keine Auskunft geben, Sir.«
»Na gut. Kann ich ihn besuchen?«
»Nein, tut mir leid.«
Chandler wurde wütend. »Ist er tot oder lebendig?«
»Tut mir leid, ich darf nichts sagen.«
»Warum haben Sie mir dann gesagt, dass er Patient ist?«
Pause. Schließlich flüsterte das Mädchen: »Ich bin
Lernschwester, und ich bin nur ans Telefon gegangen, weil sonst niemand auf Station ist. Ich hätte Ihnen nicht mal sagen dürfen, dass er hier ist. Wir haben strenge Anweisungen, und wenn Sie mich verraten, kriege ich furchtbaren Ärger, verstehen Sie? Also bitte …«
»Alles klar«, seufzte er. »Alles klar.«
316
Er legte auf. »Polly, die haben sich Brennan geschnappt. Er ist kein Patient, sondern Gefangener. Er wird abgeschirmt.«
Sie nickte. »Überrascht mich nicht. Wenn sie was machen, dann gründlich.«
Unter Prassers Privatnummer meldete sich niemand. »Mein Gott, vielleicht ist er tot. Oben in Maine.« Chandler hatte darauf gezählt, Prasser zu erreichen. Bisher konnte er die Möglichkeit, dass er umgebracht worden war, noch weitgehend ausklammern.
Nun war die Befürchtung keine reine Hypothese mehr.
Am späten Nachmittag gingen sie zu Fuß zu Sage’s in der Brattle Street, um Lebensmittel einzukaufen.
Als sie zurückkamen, nahm Chandler in der dämmerigen Küche ihr zartes Gesicht in seine Hände, sah ihr in die Augen und sagte: »Bleib bei mir.«
»Natürlich«, erwiderte sie.
Er küsste sie und drückte sie fest an sich.
»Das macht mir mehr Angst als alles andere«, flüsterte er.
»Alles ist so verdammt steril. Aber wir wissen, was passiert ist –
wie können sie es so darstellen, als sei nichts gewesen? Wo sind all die rechtschaffenen Leute hingekommen?«
»Vielleicht ist die Rasse ausgestorben«, meinte sie.
Später, im Bett, hielt er sie in den Armen, starrte ins Licht der Straßenlampen und sagte: »Ich liebe dich über alles.«
»Ich mag«, korrigierte sie, »das reicht für heute, Professor.«
Doch er träumte nicht von der Liebe, sondern von Prosser und Brennan, und beide waren tot. Da wurde ihm langsam klar, dass auch er gestorben war.
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FREITAG
Nach einem Blick auf die Uhr sprang er aus dem Bett, voller Panik wegen seiner Träume und der späten Stunde: Zur Zehn-Uhr-Vorlesung würde er es nicht mehr schaffen. Doch als er richtig wach wurde, erkannte er, dass seine Welt nicht mehr die gleiche war. Polly Bishop schlief in seinem Bett, und keiner erwartete von ihm, dass er eine Vorlesung hielt. Er war vermisst und vergessen – zumindest im Moment. Ob die Studenten immer noch zu seinen Vorlesungsterminen kamen, um zu erfahren, ob er wieder aufgetaucht war? Oder hatten sie für ihn schon Ersatz gefunden?
»Was machst du?« Polly beschirmte ihre Augen vor der Morgensonne, die auf das Kissen schien und ihn vermutlich geweckt hatte. »Warum starrst du so ins Leere?«
»Ich habe um zehn Vorlesung. Ich gehe hin.« Und schon zog er die Schlafanzugjacke aus und
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