Aquila
ins Grab nehmen, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich besitze nicht viel, nur das Porträt meiner Mutter ist von einigem Wert. Es wird daher am ehesten diese entsetzliche Heimsuchung überstehen.
Durch Zufall war ich gestern Nacht Zeuge eines Verrats, wie ich ihn mir nicht in meinen schrecklichsten Albträumen hätte vorstellen können. Wir werden an die Rotjacken verraten. Ja, so ist es. Ich traue meinen eigenen Augen nicht. Bei dem Essen und der verheerenden 179
Krankheit in diesem Höllenloch kann ich mich auf sie nicht mehr verlassen. Aber ich habe einen Beweis, von dem Verräter selbst unterschrieben. Er bestätigt, dass er Lohn erhalten hat für seine ruchlosen Taten und nennt seinen neuen Codenamen. Beweise lügen nicht, im Gegensatz zu meinen Augen.
Ich kann mich nicht überwinden, den Namen dieses Verräters niederzuschreiben, aber ich habe ihn auf einer Lichtung im Wald mit seinen Verbündeten gesehen, als ich dort Posten stehen musste. Als sie von meinen Kameraden gestört wurden, kam es zu einem Kampf. Mehrere Männer wurden getötet, und ich rannte auf die Lichtung und nahm das Stück Papier an mich. Zwar ist es dabei abgerissen, was ich bei meiner Rückkehr ins Camp bemerkt habe, aber es zeigt genug – Was soll ich nun damit anfangen? Wo kann ich Hilfe finden? Und was ist, wenn ich den Winter nicht überlebe? Wenn sie mich entdecken, werden sie mich bestimmt töten. Vielleicht sterbe ich auch so. Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl. Ich finde keine Antwort, und ich muss darauf vertrauen, dass Gott mich in den sicheren Hafen führt.
Ich verstecke das hier hinter der Rückwand von Mutters Bild und vertraue es meinem Freund John Higgins an.
Gott helfe unserer Sache! Und seinem Diener
Wm. Davis.
»Mein Gott!«, flüsterte Chandler. »Man kann sein Entsetzen jetzt noch spüren. Der arme Junge … Ich wette, er ist nicht mehr nach Hause gekommen.« Er lehnte sich in die Sofakissen zurück.
»Ich habe richtig Angst, den anderen Umschlag
aufzumachen«, bekannte Polly. »Fast möchte ich’s gar nicht wissen.«
»In was sind wir da hineingeraten? Mein Enkel ist tot, ein alter 180
Mann ist tot, und nun dieser Junge in Valley Forge … Wenn er den Krieg überlebt hätte, wären wir nicht erst jetzt auf die Sache gestoßen. Er hätte etwas unternommen. Ich glaube, er war ein tapferer Kerl …« Percys Stimme klang ganz gepresst vor Mitgefühl.
»Ich sehe ihn vor mir, wie er im Gewehrfeuer auf die Lichtung rennt. Tapferer Kerl.«
Es war beinahe Mitternacht, als Chandler den letzten Umschlag ergriff, die Klammer aufbog und ihn öffnete. Er spreizte ihn auf und ließ das armselige, verschmutzte Überbleibsel aus der Vergangenheit auf den Tisch flattern. Das Papier war verfärbt und fleckig; es roch nach trockenem, Jahrhunderte altem Moder.
An der rechten oberen Ecke war ein Fetzen abgerissen, doch den Text, mit Tinte geschrieben, konnte man deutlich lesen. Er war in einer Handschrift geschrieben, die große, kraftvolle Unterschrift in einer anderen.
Chandler las ihn laut vor und endete flüsternd. Sprachlos, forschend sahen sie einander ins Gesicht. Keiner brachte einen Ton über die Lippen. Als die große Wanduhr Mitternacht schlug, legte Chandler das alte Stück Papier vor sich auf den Tisch. Schweigend las er es noch einmal für sich:
10. Januar 1778
Hiermit wird Folgendes bestätigt:
Empfang des vereinbarten Betrages von den Vertretern der Krone für die in den letzten 6 Monaten bis zum 1. Januar 1778 geleisteten Dienste.
Änderung des Codenamens: Für die kommenden zwölf Monate ab 1. Januar 1778 gilt das Wort › AQUILA ‹ .
Aus freiem Willen unterzeichnet von Ihrem untertänigsten Diener
Geo. Washington
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SONNTAG
Als der letzte Ton des Mitternachtsläutens verebbte, überkam Chandler ein Gefühl, als nehme er die Welt mit geradezu unerträglich geschärften Sinnen wahr. Er kam sich vor wie Jimmy Stewart auf dem Dachfirst in Vertigo: kaum fähig, dem Sog in die Tiefe zu widerstehen, ja geradezu begierig auf den Sturz, um für irgendetwas zu büßen, das er nie getan hatte.
Das Feuer knisterte und sprühte Funken, und er hörte den alten Korbstuhl quietschen, als Percy Davis sich zurücklehnte. Aber alles, was er sah, war die kräftige, selbstsichere Unterschrift, die er in der Vergangenheit schon unzählige Male betrachtet hatte: Geo. Washington. Bilder jagten ihm durch den Kopf: das Mikrofon in der Tabaksdose; die zerschmettert am Boden liegende Houdon-Büste;
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