Aquila
sein Blick in die allwissenden Augen, in das ruhige, heldenhafte Gesicht des großen Mannes auf dem Pferderücken im Park …
Polly fand als Erste die Sprache wieder.
»Kann das sein, Colin?« Sie richtete sich auf und sah ihn aus dem Schneidersitz von unten herauf an. »Historisch gesehen, meine ich. Ist das möglich?«
Chandler schüttelte den Kopf und versuchte, sich von seinem Schock zu befreien.
»Möglich? Keine Ahnung. Möglich wäre alles. Aber die Sache hier ist unwahrscheinlicher als alles, was ich je gehört habe.
Man könnte genauso gut behaupten, Franklin Roosevelt habe 1941 für die Japaner gearbeitet. Eigentlich ist es noch unglaubwürdiger, falls Sie sich so was vorstellen können. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich, aber –«
»Aber was?«
»Aber in den Vereinigten Staaten gab es 1941 jede Menge Leute, die sich den Japanern und den Deutschen andienen wollten. Während der Revolutionszeit sympathisierten 182
vermutlich noch viel mehr mit den Engländern … Sie haben neulich meine Vorlesung gehört. Loyalität war damals eine hervorstechende Tugend – die Tugend überhaupt, sei es dem Land oder dem König gegenüber. Aber das da«, er wies mit dem Kinn auf das Papier, »übertrifft alles Dagewesene.«
»Colin, Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie Washington anbeten – nein, keine Widerrede: anbeten oder hoch verehren oder sonst was … es bedeutet alles dasselbe.«
»Er ist zweifellos der größte Mann in unserer Geschichte –
nicht unbedingt der brillanteste oder der klügste, vielleicht nicht einmal der tapferste, aber als historische Figur einmalig –«
»Bitte keinen Vortrag«, meinte sie mit verstecktem Lächeln.
»Ich frage Sie: Würde ein anderer Historiker sich auch so sträuben zu akzeptieren, dass Washington sich für den Fall der Fälle absicherte?«
»Sie könnten bestimmt Historiker finden, die von der Vorstellung begeistert wären. Rotznasen, die ganz wild darauf sind, zu beweisen, dass es keine großen Männer gibt. Sie brauchen sich doch nur anzusehen, wie sie sich auf Washingtons Kontobücher gestürzt haben … Kleingeister sind stets darauf aus, jeden auf ihr eigenes kleinkariertes Niveau zu reduzieren.«
Polly richtete ihren Blick zum Himmel. »Gott, warum musste es ausgerechnet Washington sein?«, grummelte sie. »Sie trauen der Sache also nicht?«
»Ich will ihr nicht trauen«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Es ist mir unmöglich …« Er hatte Mühe, Worte zu finden, und er erwartete nicht, dass ihn jemand hundertprozentig verstand. Das Fundament seines Daseins war in seiner Geschichtsphilosophie begründet: Er hatte keine Frau, keine Kinder, keine Verantwortung, die ihn vom Fluss seiner Gedanken ablenkten.
Und falls seine Sichtweise falsch sein sollte – falls die Geschichte ein Witz war, eine langweilige und reichlich brutale Story von Durchschnittsmenschen, die rein zufällig in den Blickwinkel der Schreiber gerieten –, welchen Sinn hatte dann 183
sein Leben?
Als er auf das Stück Papier starrte, das über den Abgrund von zwei Jahrhunderten hinweg die Grundlagen seiner Existenz infrage stellte, erschauerte er.
Verraten fühlte er sich, verraten von seiner eigenen Überzeugung – und von der Geschichte selbst.
Polly fasste nach seiner Hand und hielt sie zwischen ihren beiden Händen. Konnte sie mit ihm fühlen? Natürlich. Aber triumphierte sie hinter ihrem Mitgefühl nicht insgeheim, weil sie den Schlagabtausch gewonnen hatte? War die Geschichte – im Gegensatz zu den Ereignissen, die man Tag für Tag durchlebte –
nur ein irreführendes Raster, auf etwas angewendet, das so komplex war, dass es keine Regeln dafür gab? War die Geschichte ein schlechter Scherz? Hatte Washington eine Narrenkappe getragen? O Gott, es war schlimmer, als die Augen zu öffnen und von der blitzenden Zange bedroht zu werden …
»Jetzt hören Sie mal«, sagte Percy Davis. Er stand langsam auf und warf noch ein Stück Kohle ins Feuer, das er mit dem Schürhaken zurechtschob. Dann nahm er einen großen Schlüssel vom Kaminsims und drehte ihn in den Händen, während er seine beiden Gäste beobachtete. »Warum prüfen Sie nicht, wie tief das Wasser ist, bevor Sie reinspringen? Underhill und mein Enkel Bill wollten, dass Sie dieses Dings da begutachten. Das heißt doch, dass sie ihre Zweifel hatten – oder nicht? Wir wissen überhaupt nicht, ob der alte G. W. die Quittung hier selbst unterschrieben hat. Das stimmt doch, oder?«
»William Davis hat ihn
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