ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
Stachel ihn bloß nicht auf.
Der Magier lächelte verständnisvoll. »Ich werde Eure Diener rufen lassen.«
Myr schüttelte den Kopf. »Ich hab sie angewiesen, mich eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit abzuholen.«
»So mögen Euch die Götter begleiten.« Der Erzmagier machte eine Pause. »Ich hoffe, Ihr wisst, wie stolz Euer Vater auf Euch war, auf Euren Mut, Eure Stärke – Ihr macht Eurem Geschlecht alle Ehre. Ich wünschte, mein eigener Sohn wäre ein wenig mehr gewesen wie Ihr.«
Für Aralorn schwang in der Stimme des Magiers genau die richtige Dosis Schmerz mit. Sie fragte sich, wieso ihr vor ihrer derzeitigen Mission nie aufgefallen war, dass seine Emotionen stets perfekt kalkuliert waren.
»Lord Cain konnte keinesfalls als Feigling oder als schwach bezeichnet werden.« In Myrs Stimme lag gerade das rechte Maß an Mitgefühl, ebenso unaufrichtig wie das des ae’Magi. Er hätte ihm einfach danken sollen und gehen, dachte Aralorn. Gehen und hoffen, dass der ae’Magi alles über Reth und dessen jungen König vergaß.
»Nein«, stimmte der ae’Magi ihm zu. »Ich glaube, es wäre für uns alle besser gewesen, wenn er ein Feigling gewesen wäre. Er hätte weniger Unheil angerichtet.«
Der ae’Magi hielt seine Künste in dunkler Magie geheim, sein Sohn indessen hatte sie am helllichten Tag ausgeübt.
Aralorn war Cain niemals begegnet: Sein Verschwinden lag vor der Zeit ihres Eintritts in ihren derzeitigen Berufsstand. Trotzdem hatte sie die Gerüchte sehr wohl vernommen – und mit jedem Mal, dass sie erzählt wurden, wurden sie schlimmer. Aber Myr müsste ihn gekannt haben; der ae’Magi und sein Sohn waren regelmäßig Gäste am Hof seines Großvaters gewesen.
In den Geschichten spielte der ae’Magi die Rolle des gramgebeugten Vaters, der gezwungen war, seinem Sohn die Magie zu entziehen und ihn in die Verbannung zu schicken. Aralorn vermutete allerdings, dass der Junge nicht verbannt wurde, sondern tot war. Es wäre reichlich unangenehm geworden, wenn jemand gefragt hätte, wo der Sohn des ae’Magi eigentlich so viel über verbotene Magie gelernt hatte. Wie er ihr selbst gesagt hatte, zog der ae’Magi es vor, Diskussionen zu vermeiden.
»Wie dem auch sei« – mit ersichtlicher Mühe drängte der ae’Magi den Gedanken an seinen Sohn zurück – »Eure Diener warten wahrscheinlich schon auf Euch.«
»Ja, ich sollte wohl aufbrechen. Seid versichert, dass ich Eures freundlichen Hilfeangebotes gedenken werde, falls ich jemals Unterstützung benötigen sollte.« Und damit verbeugte sich Myr noch einmal und ging.
Lächelnd ließ der ae’Magi seinen Blick auf Myrs breitem Rücken ruhen, während der junge König durch den Saal davonschritt – die kleine Unvollkommenheit eines schiefen Eckzahns verlieh dem perfekteren Schwung seiner Lippen Charme. »Was für ein kluges, kluges Kind du doch geworden bist, mein lieber Myr.« Seine Stimme schnurrte geradezu vor Anerkennung. »Du wirst deinem Großvater von Tag zu Tag ähnlicher.«
Es war bereits spät, bevor die Gesellschaft sich allmählich auflöste, und noch später, ehe alle gegangen waren. Aralorns Sorge wurde mit jeder Person, die den Saal verließ, größer, denn sie wusste, dass es mit dem dürftigen Schutz, den ihr die Gäste boten, bald vorbei sein würde. Nachdem er das letzte Paar hinausbegleitet hatte, kam der ae’Magi langsam hinüber zu dem Käfig.
»So«, sagte er, gemächlich auf seinen Fersen wippend, »der Rether sieht ihn also nicht, meinen wunderbaren Nordland-Vogel.«
»Mein Gebieter?«, erwiderte sie unbestimmt. Nachdem sie den größten Teil des Abends hinreichend über den Zwischenfall hatte nachdenken können, war sie sich ziemlich sicher, dass der ae’Magi sich so viel schon zusammengereimt hatte. Und sie hatte ebenfalls genug Zeit gehabt, um zu begreifen, dass, falls er Myr für immun gegen Magie hielt, Myr würde sterben müssen.
Der Erzmagier lächelte und schnippte tadelnd mit dem Zeigefinger gegen einen der silbernen Gitterstäbe ihres Käfigs. »Nun, wann immer er dich angesehen hat, hat er dorthin geblickt, wo deine Augen sind, nicht, wo die Augen des Falken gewesen wären.«
Pest und Verdammnis , fluchte Aralorn im Stillen. Der ae’Magi steckte eine Hand durch die Gitterstäbe und streichelte ihren Hals. Sie lehnte sich gegen ihn, rieb ihre Wange an seiner Hand und zwang sich, dem diffusen Drang des charismatischen Bannzaubers, der seine Gäste bei Laune gehalten hatte, zu gehorchen, anstatt
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