ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
der Fall. Dennoch bestand kein Zweifel, dass Myr eine Frau sah und nicht den seltenen Vogel, den der ae’Magi seinen Gästen präsentierte.
Die Rether glaubten, sie seien die Abkömmlinge eines versklavten Volkes, das sich erhoben hatte, um seine Herren zu erschlagen. Schon auf ihrer Mütter Knie wurde ihnen beigebracht, wie unbegreiflich ruchlos und böse es war, einem anderen Menschen die Freiheit zu rauben und ihn zu besitzen.
Doch selbst für den König von Reth war es ein kühner Schritt, einer Sklavin des ae’Magi Fluchthilfe anzubieten. In Reth gab es eine Menge Magier, deren Gehorsam zunächst einmal dem ae’Magi galt und erst in zweiter Linie dem König – ein Gehorsam, durchgesetzt durch ihre eigene Magie. Etwas gegen den ae’Magi zu unternehmen konnte in Myrs Königreich einen Bürgerkrieg entfachen. Sein Anerbieten kam aufrichtig von Herzen und zeigte nur, wie jung dieser neue König noch war.
Vielleicht lag es an der Unbesonnenheit seiner Frage, die ihr gefiel, oder daran, dass sie eine geborene Retherin war und ein Teil von ihr Myr noch immer als ihren König ansah. Jedenfalls antwortete sie ihm als sie selbst und nicht als die Sklavin, die sie für den ae’Magi spielte.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich bin als Beobachterin hier.«
Es gab Gerüchte, nach denen die Herrscherfamilie von Reth von Zeit zu Zeit Sprösslinge hervorgebracht hatte, die immun gegen Magie waren. Es kursierte da die eine oder andere Geschichte, und Aralorn liebte Geschichten.
»Eine Spionin.« Es war keine Frage. »Ihr müsst entweder aus Sianim oder Jetaine sein. Das sind die Einzigen, die an einem so heiklen Ort wie diesem als Spitzel eine Frau einsetzen würden.« Frauen spielten in Reth ein bedeutende Rolle und waren alles andere als politisch belanglos. Aber sie zogen nicht in die Schlacht, begaben sich nicht in Gefahr.
»Ich werde für meine Arbeit bezahlt«, klärte Aralorn ihn lächelnd auf.
»Eine Sianim-Söldnerin.«
Sie nickte. »Verzeiht meine Frage, aber wie war es Euch möglich, hinter das Trugbild des Schneefalken zu blicken, mit dem der ae’Magi den Käfig belegt hat?«
»Als Schneefalke seid Ihr also getarnt?« Sein Lächeln ließ ihn sogar noch jünger aussehen, als er tatsächlich war. »Ich hab mich schon gewundert, weshalb niemand etwas über die schöne Frau gesagt hat, die er da in seinem Käfig hat.«
Interessant. Er durchschaute zwar das Trugbild des ae’Magi, nicht aber ihre veränderte Gestalt. Noch nie hatte jemand Aralorn schön genannt. Nicht in diesem Ton. Vielleicht war es ja doch nicht selbstlos gewesen, dass er ihr angeboten hatte, sie zu befreien. Das ergab immerhin Sinn; als sie das Aussehen des Sklavenmädchens angenommen hatte, hatte sich Aralorn durch Magie verändert – und nicht nur die Wahrnehmung anderer Menschen von ihr, wie es durch das Trugbild des ae’Magi geschah.
In dem Moment spürte sie Blicke auf sich und schaute verstohlen auf, nur um keine zehn Schritte entfernt den ae’Magi zu sehen, der fasziniert Myr fixierte.
Myr mochte jung und ungestüm sein, doch er war nicht dumm. Er bemerkte die fast unmerkliche Anspannung ihres Körpers und zog den richtigen Schluss.
»Was bist du nur für ein hübsches Ding«, murmelte er leise, doch ein wenig lauter, als er vorher gesprochen hatte. »Ich frag mich, ob du wohl auf Handschuh und Fessel abgerichtet bist.«
»Ah, wie ich sehe, bewundert Ihr meinen Falken, Lord.« Die tiefe, volltönende Stimme des ae’Magi hätte gut einem Sangeskünstler gehören können. Nicht nur von Gestalt war der Erzmagier schön; er klang auch wundervoll.
Myr straffte sich jäh, als wäre er überrascht, und wandte sich zu dem ae’Magi um, der nun auf ihn zuschlenderte und neben ihn vor den reich verzierten Käfig trat.
»Wirklich ein ganz außergewöhnliches Tier, nicht wahr?«, fuhr der ae’Magi im Plauderton fort. »Ich habe es vor ungefähr einem Monat von einem fahrenden Händler gekauft – es wurde irgendwo in den Nordlanden gefangen, glaube ich. Ich dachte mir, es würde sich in diesem Raum ganz gut machen.« Er vollführte mit der Hand eine flüchtige Geste, die es gleichwohl fertigbrachte, den Rest des Saals zu umfassen.
Inzwischen war Aralorn recht geübt darin, die Stimme des ae’Magi zu deuten, und sein Ton klang einen winzig kleinen Hauch zu unbekümmert. Sie fragte sich, ob er wohl ebenfalls von den Geschichten über die ungewöhnliche Veranlagung gehört hatte, die gelegentlich in der Königsfamilie von Reth
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