ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
verwettete Kai sein letztes Hemd darauf, dass er es schaffen würde, sich in das Lager zu schleichen und die Kanne Kaffee vom Feuer zu klauen, ohne dass jemand ihn bemerkte.« Auf einer Bodenerhebung sitzend, schaute Aralorn in die Runde, um sich zu vergewissern, dass der Großteil der Kinder ihr zuhörte. »Er und Talor wuchsen in einem Händlerclan auf, genau wie Stanis. Schon als er klein war, hatte er gelernt, wie man sich mucksmäuschenstill verhielt und reglos in den Schatten kauerte, sodass niemand ihn sah.
In dieser Nacht ließ ihr Kommandant die Wachen verdoppeln und stellte eigens einen Aufpasser ab, der Kai nicht aus den Augen lassen sollte. Zwei weitere Männer bewachten die Kaffeekanne. Aber trotz all dem, war die Kanne am nächsten Morgen verschwunden. Die Wache, die Kai überallhin hatte folgen sollen, hatte in Wirklichkeit Talor verfolgt, der seinem Zwillingsbruder ähnlich genug sah, dass man sie in der Dunkelheit durchaus verwechseln konnte.« Lächelnd ließ Aralorn den Blick über ihre Zuhörer schweifen. Geschichten über die Zwillinge waren immer ein Garant dafür, dass sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
»Kai war nicht nur gut genug, um die Kanne zu stibitzen, er malte jeder der Wachen auch noch, ohne dass sie es merkten, ein weißes ›X‹ auf den Rücken.«
»Ich wette, Stanis könnte das auch«, sagte Tobin. »Er ist unheimlich gewieft.« Stanis mit seinem Talent, sich nie zu verlaufen, war häufiger auf irgendwelchen Botengängen anzutreffen als in Gesellschaft der anderen Kinder. Das verlieh ihm unter seinen Anhängern nur ein noch größeres Prestige.
»Aralorn.« Myr legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Er wirkte ein bisschen blass. »Was ist los?«, fragte sie.
»Es geht um Wolf. Stanis hat ihm für mich eine Nachricht in die Bibliothek gebracht und kam vor ein paar Minuten wieder angerannt. Er sagt, da stimmt irgendwas nicht – ich denke, Ihr solltet vielleicht einmal nachsehen.«
Die Bibliothek war, als sie vorsichtig hineinspähte, in ein düsteres Zwielicht getaucht, und es war wärmer dort als gewöhnlich. Der einzige helle Schein kam von Wolfs in einem trüben Orange glimmendem Stab. Wolf saß reglos auf seinem angestammten Stuhl, das Gesicht in den Schatten. Auch als sie eintrat, bewegte er sich nicht; das und der verbrannte Geruch in der Bibliothek ließen erahnen, dass die Szenerie nicht so normal war, wie es den Anschein hatte.
Sie bemühte ihre eigene Magie und erleuchtete die Kammer. Eins der Bücherregale fehlte. Nachdenklich ging Aralorn zu der Stelle, wo es gestanden hatte, und scharrte mit der Fußspitze in der Asche, die seinen Platz eingenommen hatte. Im selben Moment ging das Regal neben ihr in Flammen auf und wurde, noch bevor sie die Hitze spürte, zu dem gleichen Zustand reduziert. Entsetzt dachte sie an all die mit ihm zerstörten unersetzbaren Bücher.
»Wolf«, fragte sie in bewusst verärgertem Ton. »Haben wir nicht schon genug Probleme, auch ohne dass du deine Wut an toten Gegenständen auslässt?« Sie wandte sich zu ihm um. Er trug wieder seine Maske.
»Ich besitze sie, Aralorn«, murmelte er leise. »Ich besitze die Kräfte, um alles zu tun.« Ein weiteres Regal folgte dem ersten und zweiten. »Alles.«
Trotz ihrer Gewissheit, dass er ihr niemals etwas antun würde, beschleunigte sich ihr Puls.
»Hätte ich nicht derartige Kräfte«, sagte er, »könnte ich vielleicht sogar etwas anfangen mit ihm. Ich hab ihn nämlich gefunden. Den Zauber, um einem Magier, der seine Macht missbraucht, die Fähigkeit zu nehmen, Magie anzuwenden. Aber ich kann ihn nicht benutzen. Ich verfüge nicht über das Können oder die Kontrolle, und der Zauber benötigt zu viel rohe Energie. Wenn ich es versuchen würde, hätten wir hier schon bald eine zweite Glaswüste.« Seine Augen funkelten.
Aralorn ging zu ihm hinüber, setzte sich neben ihm auf den Boden und lehnte ihren Kopf an sein Knie. »Wenn du weniger Macht besäßest, hätten wir überhaupt keine Chance, den ae’Magi zu besiegen. Du könntest dich nicht mal von dem Bannzauber befreien, der all die anderen Magier seinem Willen unterwirft. Es gäbe niemanden, der ihm die Stirn bieten würde. Hör auf, dich selbst zu zerfleischen und damit dem ae’Magi in die Hände zu spielen. Du bist, was du bist. Nicht mehr und nicht weniger.« Einen scheinbar endlosen Augenblick lang herrschte Stille in der Bibliothek. Aralorn ließ ihr Licht erlöschen und saß mit Wolf schweigend in der Dunkelheit. Kein
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