ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
nach Einbruch der Dunkelheit einträfe, müsste er mit dem Ausrücken bis zum Morgen warten«, erklärte sie Schimmer. »Bei Tageslicht wäre der Wagen ruckzuck repariert, und wir alle kämen zu unserem wohlverdienten Schlaf. Du und ich, wir könnten die letzte halbe Meile oder so traben, gerade lange genug, um ein kleines bisschen ins Schwitzen zu geraten, und behaupten, dass es der Schmied war, der so lange gebraucht hat.«
Plötzlich riss ihr Schlachtross jäh seinen Kopf hoch. Es schnaubte beunruhigt auf, seine Nüstern vibrierten, als es die Luft einsog und die Ohren anlegte.
Augenblicklich fuhr Aralorns Hand an den Riemen, an dem sich ihr Schwert in seiner Scheide befand. Aufmerksam blickte sie sich um. Da war nicht einfach bloß eine Person – davor hätte Schimmer sie durch ein warnendes Ohrenzucken gewarnt.
Möglicherweise hatte der Geruch von Blut das antrainierte Kampfverhalten ihres Pferdes geweckt, dachte sie, oder vielleicht hatte es irgendeine Art von Raubtier gewittert. Immerhin waren das hier die Nordlande; hier gab es Bären, Wölfe und noch so manche andere Dinge, die groß genug waren, um Schimmer in Aufregung zu versetzen.
Plötzlich wieherte der graue Hengst eine schrille Herausforderung hinaus, die wahrscheinlich im Umkreis von Meilen noch wahrzunehmen war. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Hauptmann sie nicht hörte. Was immer Schimmer auch witterte, es befand sich in dem Espenhain nicht weit hügelaufwärts von dort, wo sie standen. Und außerdem hatte es dem Anschein nach keine große Eile, zum Angriff überzugehen, denn auf Schimmers Ruf erfolgte keinerlei Reaktion; keine erwidernde Herausforderung, nicht einmal ein Rascheln.
Sie könnte einfach weitergehen. Wenn es bis jetzt nicht herausgekommen war, dann würde es das vermutlich auch nicht mehr tun. Aber wo blieb dann der Spaß?
Sie ließ Schimmers Zügel auf den Boden fallen. Er würde an Ort und Stelle bleiben, bis sie zurückkam – zumindest so lange, bis er Hunger bekam. Dann zückte Aralorn ihr Messer und schlich in das Dickicht der Espen.
Er hörte sie reden und roch das Pferd. Rührte sich nicht. Er hatte Ross und Reiter schon einmal vorbeikommen hören – oder wenigstens glaubte er das. Doch dieses Mal hatte das Pferd gescheut, weil der Wind, der die Espenblätter kräuselte, ihm den Geruch des Wolfs um die Nüstern geweht hatte.
Er wartete, dass sie vorbeigingen. Heute Nacht, dachte er hoffnungsvoll. Heute würde die dritte Nacht sein, die er hier verbrachte, vielleicht war es seine letzte. Doch ein Teil von ihm wusste es besser, wusste, wie lange es dauerte, bis ein Körper vor Durst oder Hunger starb. Er war noch immer zu kräftig. Nein, das Ende würde nicht vor morgen kommen.
Die Hoffnung auf den Tod hatte ihn abgelenkt, und erst das Geräusch der Schritte der Frau verriet ihm, dass sie herangekommen war. Er öffnete die Lider und blickte in das abgesehen von den großen, meergrünen Augen reizlose Gesicht einer kräftig gebauten Frau, die sich über den Rand der Fallgrube beugte. Sie trug eine Söldneruniform, und ihre Hände waren schwielig und lehmverschmiert.
Er wollte ihre Augen nicht sehen, wollte überhaupt kein Interesse für sie empfinden. Er wollte nur, dass sie ihn in Ruhe ließ, damit er sterben konnte.
»Zur Hölle mit allem und jedem«, hörte er sie sagen. Ihre Stimme klang angespannt und wütend. Dann wurde ihr Tonfall weicher. »Wie lange hockst du denn schon da drin, mein Schatz?«
Als sie an der anderen Seite der Fallgrube hinabglitt und dann über ihn gebeugt dastand, erkannte der Wolf die von dem Messer in ihrer Hand ausgehende Gefahr. Er knurrte, rollte sich von der Seite auf den Bauch, um auf die Beine zu kommen – dass er sterben wollte, hatte er vergessen. Zumindest für den Moment. Er zitterte vor Anstrengung, vor Schwäche, vor Schmerz wegen seines gebrochenen Beins. Mit angelegten Ohren sank er wieder zurück.
»Schhhh«, sagte sie leise und deckte angesichts seiner Aggressivität ihr Messer ab. »Allzu lange offensichtlich nicht. Na schön, und was mach ich jetzt mit dir?«
Geh weg , dachte er. Er knurrte sie abermals an, so drohend, wie er vermochte, spürte, wie seine Lefzen sich von den Fängen zurückzogen und sich ihm entlang der Wirbelsäule das Fell aufrichtete.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war nicht ganz der, den er erwartet hatte. Ganz gewiss war es nicht der, mit dem eine geistig gesunde Person auf einen gefährlichen Wolf blicken würde. Sie sollte sich eigentlich vor
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