Arams Sündenbabel
Martina war einfach nicht mehr zu sehen, und ich glaube nicht, dass sie zu einem Nebelgeist geworden ist.«
»Kann man das wissen, John?«
»Oh, das hört sich an, als wüsstest du mehr.«
Janine schüttelte den Kopf. »Nein, John Sinclair, und ich meine es ehrlich. Ich habe sie gekannt oder kenne sie noch, aber viel mehr als du weiß ich nicht über sie.«
»Kennst du sie schon länger?«
»Ein paar Jahre wohl. So genau weiß ich das allerdings nicht mehr. Wir sehen uns auch nicht oft.« Sie räusperte sich. »Es ist ja nicht so wie bei einem normalen Menschen oder bei Freunden, die man schnell mal anruft, um sich mit ihnen zu treffen. Das klappt bei Martina Mädel leider nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es sie eigentlich nicht mehr gibt.«
»Bitte?« Ich setzte mich steifer hin. »Das musst du mir genauer erklären, Janine.«
Sie bedachte mich mit einem schiefen Blick, als würde sie mir nichts glauben. »Tu nicht so unwissend, John. Es gibt Martina Mädel deshalb nicht mehr, weil sie schon tot ist.«
Janine hatte mich bei ihren letzten Worten angeschaut. Wahrscheinlich deshalb, um meine Überraschung zu erleben, die sich allerdings in Grenzen hielt.
»Ja, etwas Ähnliches dachte ich mir, denn sie hat über das Thema Tod mit mir gesprochen.«
»Allgemein?«
»Mehr oder weniger. Jedenfalls sagte sie mir nicht, dass sie nicht mehr am Leben ist. So groß scheint das Vertrauen doch nicht gewesen zu sein. Trotz deiner Fürsprache.«
Janine war anderer Meinung. »So kannst du das nicht sehen, John, ganz und gar nicht. Bei Martina ist das etwas anderes. Auch wenn du sie frei hast herumlaufen sehen, sie steckt trotzdem in einem Gefängnis, das wie ein Käfig ist, aus dem sie sich nicht befreien kann. Sie lebt nicht mehr, aber sie existiert unter Zwängen, und so einfach kommt sie dabei nicht raus.«
»Wer hat ihr diese Zwänge auferlegt?«
Janine nickte nachdenklich vor sich hin. »Es ist alles eine Frage der Lesart. Martina ist da in etwas hineingeraten, das sie sich nicht gewünscht hat.«
Etwas lauernd fragte ich: »Könnte es das von ihr erwähnte Sündenbabel gewesen sein?«
»Gut.« Janines Stimme klang erfreut. »Das hat sie dir gesagt? War das Vertrauen so groß?«
»Darum geht es wohl letztendlich. Oder auch um Tote, die gar nicht tot sind.«
»Ja, John Sinclair, sie sind die wichtigsten Teile in diesem Horror-Puzzle. Menschen, die gestorben sind, aber nicht richtig wegtauchen können und deshalb in diesem Sündenbabel leben müssen. Darauf musst du dich bei deinen Nachforschungen konzentrieren.«
»Wunderbar«, sagte ich lachend. »Ich soll nachforschen. Kannst du mir auch sagen, wo ich damit anfangen soll? Jetzt, nachdem die einzige Zeugin verschwunden ist.«
»In dem erwähnten Sündenbabel.«
» Sorry Janine, auch wenn du dich jetzt gegen mich stellst, das ist mir einfach zu vage.«
»Bis jetzt!«, sagte sie. »Aber das wird sich ändern, denn ich werde dich dort hinbringen.«
Janine Helder war wirklich wie die Horror-Oma. Auch mit der erlebte ich immer wieder Überraschungen, und so konnte ich zunächst nur den Kopf schütteln. »Sie hat dich eingeweiht, die gute Martina.«
»Ich war ihre Vertrauensperson.«
»Gut. Meine nächste Frage. »Und was ist dieses Sündenbabel konkret?«
»Ein Hotel, John.«
»Ach.«
»Ja, ein altes Hotel. Sehr alt schon. Ein wunderbares Haus, hat man früher gesagt. Ein Hotel, das sehr einsam steht. Man hat es in die Leere der Landschaft hineingebaut, und es war trotzdem immer sehr besucht und gebucht. Darin verkehrten zahlreiche Stars aus der – heute würde man sagen – Mediengesellschaft. Damals waren es die Gesichter, die die Menschen aus den Filmen kannten. Man zog sich in das Hotel zurück, um unter sich zu sein und seine Ruhe zu haben. Die Zeiten sind vorbei. Die Stars von heute nächtigen woanders, doch das Hotel ist geblieben.«
»Schon besser, Janine. Jetzt würde mich nur noch interessieren, was Martina Mädel mit diesem Hotel zu tun hat.«
»Es hat ihr mal gehört. Sie war seine Besitzerin. Aber das liegt lange zurück.«
Allmählich lichteten sich die Schatten. Trotzdem blieben Fragen. »Und wo ist Martina gestorben?«
Janine senkte den Blick.
»In dem Hotel, wie ich weiß. In diesem Sündenbabel.«
Ich wiederholte leise das Wort und fragte dann: »Wie hat dieses Hotel seinen Namen erhalten? Dafür muss es doch einen Grund gegeben haben, denke ich.«
»Natürlich. Dieses Hotel war ein Ort, zu dem die Moral keinen Zutritt mehr
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