Archer Jeffrey
Fläschchen und Tiegeln in sein Zimmer kam, lag er bereits im Bett. Sie beugte sich über ihn und schlug die Decke zurück. Sie zog ihm vorsichtig das Nachthemd aus, ängstlich besorgt, ihm dabei nicht noch mehr Schmerzen zu bereiten. Dann jedoch starrte
sie in ungläubigem Staunen auf seinen nackten Körper. Die Haut des Jungen war unverletzt geblieben.
Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über den makellosen
Körper ihres Sohnes. Seine Haut war so weich, als käme er
eben aus dem Bad. Sie untersuchte ihn von allen Seiten, doch
es waren nirgendwo Striemen zu entdecken. Rasch breitete sie
wieder die Decke über ihn.
„Erzähle deinem Vater ja nichts davon und vergiß diese
ganze Sache ein für allemal, denn schon ihre Erwähnung allein
würde ihn nur noch wütender machen.“
„Ja, Mutter.“
Die Mutter blies die Kerze neben seinem Bett aus, nahm die
unverwendeten Salben und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Auf
der Schwelle drehte sie sich nochmals um, sah durch das
Dunkel auf ihren Sohn zurück und sagte:
„Jetzt weiß ich, daß du die Wahrheit gesagt hast, Pontius.“
Ein echter Gentleman
Nie wäre ich Edward Shrimpton begegnet, hätte er nicht ein Handtuch gebraucht. Er stand nackt neben mir, den Blick auf eine vor ihm stehende Bank geheftet, und murmelte: „Ich hätte schwören mögen, daß ich das verdammte Ding hier liegen gelassen hatte.“
Ich kam gerade, in Badetücher gehüllt, aus der Sauna, und so zog ich eines von meiner Schulter und reichte es ihm. Er dankte mir und streckte die Hand aus.
„Edward Shrimpton“, sagte er lächelnd. Ich ergriff seine Hand und dachte dabei, wie seltsam wir zwei händeschüttelnden nackten Männer uns hier zu früher Abendstunde im Umkleideraum des Metropolitan Club ausnehmen mußten.
„Ich kann mich nicht erinnern, Sie hier im Club schon einmal gesehen zu haben“, fügte er hinzu.
„Nein, ich bin auch nur Auslandsmitglied.“
„Ach ja, Engländer. Was führt Sie nach New York?“
„Ich bin hinter einer amerikanischen Autorin her, die mein Verlag in England herausbringen möchte.“
„Mit Erfolg?“
„Ja, ich denke, daß wir noch diese Woche handelseinig werden – falls ihr Agent es aufgibt, mich davon überzeugen zu wollen, daß seine Autorin eine Kreuzung aus Tolstoi und Dickens ist und dementsprechend hohe Honorare verdient.“
„Wenn ich mich recht erinnere, hat keiner der beiden Genannten besonders gut verdient“, gab Edward Shrimpton zu bedenken, während er sich mit dem Handtuch energisch den Rücken abrubbelte.
„Eine Tatsache, auf die ich seinerzeit natürlich auch den Agenten aufmerksam gemacht habe, der mir darauf aber nur erwiderte, ich möge doch bitte nicht vergessen, daß Dickens ursprünglich in unserem Verlag erschienen sei.“
„Ich nehme doch an“, sagte Edward Shrimpton, „Sie haben ihn daran erinnert, daß dies letzten Endes allen Beteiligten Vorteile gebracht hat.“
„Ja, sicher, doch fürchte ich, daß dieser Agent mehr an seinem Vorschuß als an der Nachwelt interessiert ist.“
„Dies ist eine Einstellung, die ich als Bankier schwerlich tadeln kann, denn schließlich haben wir mit den Verlegern ja nur das eine gemeinsam, daß auch unsere Kunden immer versuchen, uns eine gut erfundene Geschichte zu erzählen.“
„Hätten Sie nicht Lust, aus der einen oder anderen ein Buch für mich zu machen?“ fragte ich höflich.
„Gott bewahre! Man hat Ihnen sicher schon bis zum Überdruß einzureden versucht, daß in jedem Menschen ein Buch steckt. Zu Ihrer Beruhigung darf ich Ihnen daher versichern, daß in mir keines steckt!“ Ich lachte, denn ich empfand es als ausgesprochen erfrischend, von einem neuen Bekannten ausnahmsweise nicht zu hören zu bekommen, daß seine Memoiren – fände er nur die Zeit, sie niederzuschreiben,
– über Nacht ein internationaler Bestseller wären.
„Sie hätten vielleicht Stoff genug für einen ganzen Roman und wissen es bloß nicht“, meinte ich.
„Sollte das der Fall sein, so ist es mir bisher leider entgangen.“
Bei diesen Worten tauchte Mr. Shrimpton zwischen den Umkleidekabinen wieder auf und gab mir mein Handtuch zurück. Er war nun vollständig angezogen und maß, schätzte ich, an die einsachtzig. Er trug den typischen Wall-StreetBanker-Nadelstreif und sah, ob wohl fast kahl, für einen wohl bald Siebzigjährigen ungewöhnlich gut aus. Sein wahres Alter verriet nur der dichte weiße Schnurrbart, der zu einem pensionierten englischen Offizier übrigens besser gepaßt hätte als zu
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