Archer Jeffrey
grünes Kleid, das frisch gebügelt aussah. Sie hatte offenbar beschlossen, den möglichen Gönner wie Nelson Rockefeller zu behandeln, jedenfalls fehlte nur, daß man einen roten Teppich für ihn ausgerollt hatte, als Charlie in ihr Arbeitszimmer geführt wurde.
Zwei junge Assessoren aus Roberts’ Kanzlei standen auf, als Charlie und der Anwalt eintraten. Sie hatten sich die ganze Nacht hindurch sorgfältig die Akten vorgenommen und alles über den Hausplan, Küchendienst und die anderen Pflichten der Zöglinge erfahren, sowie über ihre Belobigungen und Verweise.
»Haben Sie noch irgend etwas Wissenswertes über die beiden in Frage kommenden Mädchen herausgefunden?« erkundigte sich Roberts.
»Ja, es blieben nur zwei«, warf Mrs. Culver ein. »Ist das nicht aufregend?« Geschäftig rückte sie alles im Zimmer zurecht, das sich offenbar nicht genau an seinem angestammten Platz befand.
»Zwar keine Beweise«, antwortete einer der beiden jungen Männer, dessen Augen vor Müdigkeit rot und verquollen waren, »aber eines der beiden Mädchen würde genau passen. Es gibt nicht die kleinste Information über die Zeit vor ihrem dritten Lebensjahr. Und was noch wesentlicher ist, sie wurde genau zu der Zeit im Heim aufgenommen, als Captain Trentham kurz vor seiner Hinrichtung stand.«
»Und die Köchin, die damals Küchenmädchen war, erinnert sich, daß die Kleine mitten in der Nacht gebracht wurde«, warf Mrs. Culver ein. »Und zwar von einer fein gekleideten Dame, die sehr streng und hochmütig aussah und eine vornehme Aussprache …«
»Eine gute Beschreibung von Mrs. Trentham«, sagte Charlie. »Nur ist der Name des Kindes offensichtlich nicht Trentham.«
Der Assessor überflog die Notizen, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. »Nein, Sir«, bedauerte er. »Dieses Mädchen wurde unter dem Namen Cathy Ross eingetragen.«
Charlies Knie gaben nach. Sofort rannten Roberts und Mrs. Culver herbei und halfen ihm in den einzigen bequemen Sessel. Mrs. Culver lockerte seine Krawatte und öffnete den Kragen.
»Fühlen Sie sich nicht gut, Sir Charles?« fragte sie besorgt. »Ich muß sagen, Sie sehen …«
»Die ganze Zeit lag die Wahrheit vor meinen Augen«, murmelte Charlie. »Blind wie eine Fledermaus, würde Daphne sagen.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, sagte Roberts bestürzt.
»Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich es selbst verstehe.« Charlie wandte sich wieder dem jungen Assessor zu.
»Ist sie von St. Hilda zur Universität von Melbourne gegangen?« fragte er ihn.
Der Praktikant sah nach. »Ja, Sir. Sie hat 1942 immatrikuliert und 1945 abgeschlossen.«
»Wo sie Kunstgeschichte und Englisch studiert hat.«
Wieder blickte der Assessor auf die Unterlagen vor ihm. »Das stimmt, Sir.« Er konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
»Hat sie zufällig auch Tennis gespielt?«
»Hin und wieder in der zweiten Mannschaft der Universität.«
»Aber konnte sie auch malen?« fragte Charlie.
Der Assessor blätterte in der Akte.
»O ja!« sagte Mrs. Culver da. »Sogar sehr gut, Sir Charles. Ein Bild von ihr hängt im Speisesaal, eine Waldlandschaft, von Sisley inspiriert, nehme ich an. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen …«
»Dürfte ich das Bild sehen, Mrs. Culver?«
»Selbstverständlich, Sir Charles.« Die Heimleiterin holte einen Schlüssel aus der oberen rechten Schreibtischlade. »Wenn Sie bitte mitkommen würden.«
Charlie erhob sich mit noch etwas unsicheren Beinen und begleitete Mrs. Culver, als sie ihr Arbeitszimmer verließ und durch einen langen Korridor zum Speisesaal eilte, dessen Tür sie erst aufschließen mußte. Trevor Roberts, der hinter den beiden stehengeblieben war, wirkte verwirrt, stellte jedoch keine Fragen.
Als sie den Speisesaal betreten hatten, blieb Charlie für einen Moment wie angewurzelt stehen und sagte: »Ich kann einen Ross auf zwanzig Schritte Entfernung erkennen!«
»Wie bitte, Sir Charles?«
»Nicht so wichtig, Mrs. Culver.« Charlie blieb unter dem Bild stehen und blickte zu der Waldlandschaft in Braun- und Grüntönen hoch.
»Ist es nicht bezaubernd, Sir Charles? Sie hat wirklich etwas von Farben verstanden. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen …«
Aber auch diesmal ließ Charlie sie nicht ausreden. »Mrs. Culver, was meinen Sie, wäre ein Kleinbus ein fairer Tausch für dieses Bild?«
»Durchaus«, versicherte ihm Mrs. Culver ohne Zögern. »Um ehrlich zu sein …«
»Und wäre es zuviel verlangt, wenn Sie auf die Rückseite des Aquarells schreiben würden:
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