Archer, Jeffrey
Schützlings.
Endlich kamen sie zu einem frischgestrichenen Haustor mit der Nummer 218. Mit ihrer behandschuhten Rechten klopfte Miss Tredgold zweimal an. Zum erstenmal, seit sie heute die Schule verlassen hatte, schwieg Florentyna.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann in grauem Pullover und Bluejeans ließ sie ein.
»Ich las Ihr Inserat in der Sun Times«, erklärte Miss Tredgold, bevor der Mann noch den Mund öffnen konnte.
»Ach ja. Bitte kommen Sie doch herein.«
Miss Tredgold und die verwunderte Florentyna wurden durch ein kleines Vorzimmer, mit vielen Photographien, zu einer Tür geführt, die sich zum Hof öffnete.
Florentyna sah sie sofort. Sie lagen in einem Korb auf der anderen Hofseite: Sechs gelbe Labradorjunge schmiegten sich eng an ihre Mutter. Eines von ihnen verließ die Geborgenheit der Familie, kletterte aus dem Korb und hinkte auf Florentyna zu.
»Es lahmt« , sagte Florentyna, nahm das Junge auf und betrachtete sein Bein.
»Ja, leider«, sagte der Züchter. »Aber die anderen fünf sind kerngesund. Sie können wählen, welchen Sie wollen.«
»Was passiert, wenn niemand das Hinkebein nimmt?«
»Ich nehme an…«
Der Züchter zögerte. »… Man wird es einschläfern müssen.«
Flehentlich sah Florentyna zu Miss Tredgold auf, während sie den kleinen Hund im Arm hielt, der eifrig ihr Gesicht leckte.
»Ich will diesen kleinen Hund«, sagte Florentyna ohne zu zögern und fürchtete Miss Tredgolds Antwort.
»Wieviel kostet er?« fragte Miss Tredgold und öffnete die Handtasche.
»Nichts, Ma’am. Ich bin froh, daß er ein gutes Heim gefunden hat.«
»Danke«, stammelte Florentyna. »Danke.«
Auf dem Heimweg hörte der Schwanz des Hundekindes nicht auf zu wedeln, während Florentynas Zunge zu Miß Tredgolds Verwunderung stillstand. Erst in der Küche gab Florentyna den neuen Spielgefährten frei. Zaphia und Miss Tredgold sahen zu, wie die kleine Labradorhündin zu einer Schüssel mit warmer Milch hinkte.
»Sie erinnert mich an Papa«, bemerkte Florentyna.
»Sei nicht vorwitzig«, ermahnte Miss Tredgold.
Zaphia unterdrückte ein Lachen. »Nun, Florentyna, wie wirst du sie nennen?«
»Eleanor.«
4
1940, im Alter von sechs Jahren, bewarb sich Florentyna zum erstenmal um das Amt des Präsidenten. Miss Evans, ihre Lehrerin, hatte beschlossen, eine Wahl abzuhalten.
Die Jungen der Latin School wurden aufgefordert, daran teilzunehmen, und Edward Winchester, dem Florentyna die Sache mit der blauen Tinte nie ganz verziehen hatte, sollte als Wendell Willkie kandidieren; Florentyna natürlich als F.D.R.
Man kam überein, daß jeder Kandidat vor den siebenundzwanzig Schülern und Schülerinnen der beiden Klassen eine fünf Minuten lange Rede halten solle. Miss Tredgold, die Florentyna nicht beeinflussen wollte, mußte sich ihre Rede einunddreißigmal anhören – oder waren es zweiunddreißigmal? -, wie sie Mr. Rosnovski am Sonntag vor der großen Wahl berichtete.
Florentyna hatte Miss Tredgold jeden Morgen die politischen Artikel der Tribune vorgelesen und nach Informationen gesucht, die sie in ihrer Rede verwenden konnte. Überall schien Kate Smith »God bless America«
zu singen, und der Dow Jones hatte zum erstenmal einhundertfünfzig überschritten. Was das war, wußte Florentyna nicht, aber es schien gut für den Präsidenten.
Florentyna las auch über den Krieg in Europa, und daß das 36.000 Tonnen-Schlachtschiff U.S.S. Washington vom Stapel gelaufen sei, das erste Kriegsschiff, das Amerika in neunzehn Jahren gebaut hatte.
»Warum bauen wir ein Kriegsschiff, wenn der Präsident versprochen hat, daß Amerika nie Krieg führen wird?«
»Ich nehme an, es ist gut für unsere Verteidigung«, meinte Miss Tredgold, die eifrig Socken für »die Jungen zu Hause« strickte. »Für den Fall, daß die Deutschen uns angreifen.«
»Das werden sie nicht wagen«, erklärte Florentyna.
An dem Tag, an dem Trotzki in Mexiko ermordet wurde, versteckte Miss Tredgold die Zeitung, während sie ein andermal völlig außerstande war zu erklären, was Nylonstrümpfe sind und warum die ersten zweiundsieb-zigtausend Paar in acht Stunden ausverkauft waren, obwohl die Kunden nicht mehr als zwei Paar auf einmal kaufen durften.
Miss Tredgold, die hellbraune Wollstrümpfe zu tragen pflegte die Schattierung trug den optimistischen Namen
»Verlockung« studierte stirnrunzelnd die Nachricht und erklärte nachdrücklich: »Ich werde bestimmt nie Nylonstrümpfe tragen.«
Sie hielt Wort.
Als der
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