Aristos - Insel der Entscheidung
nicht so gedacht haben, oder? Nach einem Moment des Schweigens fragte sie leise: „Wohin bist du damals eigentlich gegangen?“
Seufzend ließ er ihren Arm los. „Nach Athen, in unser Apartment. Da habe ich mich eine Zeit lang vergraben. Als ich auf die Insel zurückkehrte, warst du nicht mehr da.“
„Ich habe zwei Wochen auf dich gewartet. Auf irgendein Zeichen.“
Trauer lag in seinen Augen, als er erwiderte: „Zwei kurze Wochen hast du mir gegeben, um zur Vernunft zu kommen, ehe du gegangen bist.“
So hatte sie das noch nie betrachtet, dass auch er sich verlassen gefühlt haben könnte. Wie leicht hätte sie sich jetzt verteidigen können, ihn daran erinnern, dass er sie nicht ein einziges Mal in England angerufen hatte, um zu fragen, wie es ihr ging. Sie hätte sogar erklären können, wie sie damals sechs furchtbare Wochen später auf die Insel zurückgekommen war, nur um festzustellen, dass sie ihn dort nicht mehr finden würde. Oder wie sie schließlich in Athen gesehen hatte, was er tat, um sie für immer zu vergessen.
Aber warum sollte sie all das wieder hochholen, wo sie doch beide der Meinung waren, dass sie endlich die Vergangenheit loslassen sollten. Zwischen ihnen gab es nichts mehr, und das schon seit Jahren. Was ihr hemmungsloses Intermezzo auf dem Berg nur noch peinlicher machte! Für die möglichen Konsequenzen würde sie ihr Leben lang geradestehen müssen, doch auch das würde sie für sich behalten.
Mit einem Blick auf die Uhr entschied sie sich für eine Notlüge: „In zehn Minuten bin ich mit Jamie verabredet. Ich muss gehen.“
6. KAPITEL
Verblüfft beobachte Andreas, wie sie davonging. Ihr die Schuld an Nikos’ Unfall geben? Noch immer konnte er kaum glauben, was Louisa da gesagt hatte! Wieso machte sie sich für den Tod ihres Sohnes verantwortlich? Wenn jemand schuld daran war, dann doch wohl er!
Mit trübem Blick starrte er aufs Meer hinaus. Er hätte sein Versprechen einhalten müssen und mit seiner Familie einen entspannten Tag am Strand verbringen sollen, anstatt in irgendeiner Konferenz den großen Geschäftsmann zu markieren, für den Geld und Macht eine größere Rolle spielten als seine Frau und sein Kind!
Was wirklich zählt im Leben, hatte er auf die allerhärteste Weise lernen müssen. Keinen einzigen seiner unzähligen Anrufe in England hatte sie angenommen, nicht auf der Festnetzleitung ihrer Eltern und auch nicht auf dem Handy, das sie die ganze Zeit ausgeschaltet hatte. Als er schließlich nach London flog, um sich mit ihr auszusprechen, wiesen ihre Eltern ihn mit eiskalter Miene an der Tür ab. Louisa will dich nie mehr wiedersehen! Nach diesem Schlag hatte er sich wochenlang in Athen aufgehalten und das Apartment nur verlassen, wenn seine Alkoholreserven zur Neige gingen.
Als er seinen Blick wieder auf sie richtete, neigte sie sich gerade über den weißen Marmorgrabstein ihres Sohnes, hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen und presste sie dann auf die Inschrift. Bei diesem Anblick schnürte sich ihm die Kehle zusammen, und ein furchtbarer Schmerz bohrte sich in sein Herz.
Wie sollte es jetzt weitergehen mit ihnen? Was sollte er tun? Auch wenn Louisa wild entschlossen schien, die Vergangenheit loszulassen, dadurch wäre es zwischen ihnen noch lange nicht vorbei. Denn es war noch lange nicht vorbei, das spürte er. Und je eher sie das einsehen würde, desto besser.
Langsam schlenderte er zu ihr hinüber und verkündete: „Ich werde dich zum Hotel fahren.“
„Nein, danke. Ich laufe lieber.“
Nach einem kurzen Moment des Schweigens raunte er ihr ins Ohr: „Vielleicht sollte ich dich darauf hinweisen, dass Pater Lukas am Eingang der Kapelle steht und uns beobachtet.“ Sein warmer Atem bereitete ihr Gänsehaut. „Willst du ihm wirklich einen neuen Grund geben, Klatsch über uns zu verbreiten, indem du dich hier mit mir am Grab unseres Sohnes streitest?“
Nein, hier konnten, hier durften sie wirklich nicht streiten! Mit einem kurzen Blick über die Schulter stellte sie fest, dass der Priester sie tatsächlich beobachtete, und erwiderte mürrisch: „Okay. Du kannst mich zum Hotel fahren.“
„Vielen Dank“, antwortete er trocken und erschreckte sie fast zu Tode, als er ihr plötzlich einen muskulösen Arm um die Taille schlang. Die Wärme seines Körpers, sein betörender Duft und die liebevolle Geste, mit der er das kleine Spielzeugauto vor dem Gehen zurechtrückte, all das schnürte ihr die Kehle zusammen und trieb ihr die Tränen in die
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