Arkadien 02 - Arkadien brennt
aneinandergezurrt. Die Kabelbinder schnitten in ihre Haut und ließen sich um keinen Millimeter lockern. In ihrem Mund steckte ein Gummiball, der mit einem Band hinter ihrem Kopf festgeschnallt war. Mit der Zungenspitze ertastete sie Bisslöcher fremder Zähne in der Oberfläche. Sie war nicht die Erste, die das hier durchmachte.
Der Boden des Lieferwagens war sandig, mochte der Himmel wissen, was sie sonst damit transportierten. Wenn die Reifen über Kanaldeckel und Schlaglöcher holperten, wurde sie durchgeschüttelt und schürfte sich die Haut auf. Einmal schlug sie mit dem Hinterkopf gegen die Seitenwand und sah für einen Moment wirbelnde Lichter in der Finsternis.
Je krampfhafter sie versuchte, die Verwandlung zu erzwingen, desto unmöglicher wurde es. Statt Kälte spürte sie Hitzewellen, weil die Angst immer wieder die Oberhand gewann. Ihre Kleider waren durchgeschwitzt, das Haar klebte in Strähnen an ihrer Stirn.
Sie hatten ihr nicht mal eine Spritze gegeben wie Cesare damals, als er hatte vermeiden wollen, dass sie ihm als Schlange entkam. Michele Carnevare musste kein Hellseher sein, um zu erraten, wie unerfahren sie war. Sie wusste gerade einmal seit vier Monaten, was sie war und welches Erbe in ihr ruhte. Die erste Verwandlung eines Arkadiers setzte an der Schwelle zum Erwachsenwerden ein, selten vor dem siebzehnten Lebensjahr. Michele konnte sich an den Fingern abzählen, dass das Hormonchaos der Pubertät gerade erst durch ein viel schlimmeres ersetzt worden war.
Und trotzdem – es musste möglich sein. Alessandro war es mehrfach gelungen, zum Panther zu werden, wenn er es wollte. Irgendetwas war dazu nötig, das ihr fehlte. Beherrschung womöglich.
Und dann wusste sie es. Sie konnte, ganz buchstäblich, nicht aus ihrer Haut. Während Alessandro in der Lage war, eigene Interessen hintenanzustellen und auch Aufgaben zu übernehmen, die ihm nicht passten, alles für sein eines, großes Ziel, konnte sie nichts von alldem. Für sie war es so realistisch, über ihren Schatten zu springen wie über den East River. Sie war immer nur sie selbst, und was sie dachte, sah man ihr auf einen Kilometer an. Dieses ganze Theater, Anführerin ihres Clans zu sein, war eine Farce. Sie wollte das nicht und sie konnte es nicht.
Genauso war es mit der Verwandlung zur Schlange. Je heftiger sie versuchte, die Metamorphose zu erzwingen, desto aussichtsloser wurde es. Ihren Körper interessierte das nicht im Geringsten – er wollte sich nur zusammenkauern und warten, bis die Gefahr vorüber war.
Als Salvatore Pantaleone, der ehemalige capo dei capi , sich am Rand der Sikulerschlucht auf sie gestürzt hatte, da war sie in Sekunden zur Schlange geworden. Vielleicht, wenn Michele oder einer der anderen auf sie losgingen … Aber konnte sie so lange warten? Und musste er es nicht voraussehen? Er war kein Idiot – vielleicht legte er es darauf an, dass sie sich verwandelte.
Er hatte etwas mit ihr vor, und das schien nur Teil von etwas Größerem zu sein. Deshalb hatten sie es so eilig. Alles war vorbereitet. Nur wofür? Mit Rosa hatten sie nicht gerechnet, aber in dem Netz, das sie ausgeworfen hatten, war offenbar noch Platz genug für sie.
Bittere Galle kam ihr hoch. Rosa würgte sie angewidert herunter. Mit der Gummikugel im Mund würde sie an ihrem Erbrochenen ersticken.
Zweimal hatte sie sich verwandelt, weil das Leben anderer auf dem Spiel gestanden hatte. Beim ersten Mal aus Liebe zu Alessandro, in einem Kellerloch am Monument von Gibellina, während Cesares Handlanger näher kamen, um ihn zu töten. Und erneut neben ihrer sterbenden Schwester, als Rosas Hass auf Pantaleone jeden anderen Gedanken auslöschte.
Aber was war mit ihrem eigenen Leben? Würde die Schlange sich zeigen, um sie selbst zu retten?
Daliegen und abwarten. Die Männer im Fahrerraum lachten. Hupen und Motorlärm drangen durch die Metallwände des Wagens, einmal Musikgetöse wie von einem gigantischen Jahrmarkt. Vielleicht der Times Square.
Als sie zwischendurch anhielten, trat Rosa mit aller Kraft gegen die Wand. Wieder und wieder, bis die Strumpfhosen an ihren Waden in Fetzen hingen und es um die Haut darunter nicht viel besser stand. Doch nichts, was sie hier drinnen veranstaltete, würde draußen Aufmerksamkeit erregen. Das hier war Manhattan. Kaum jemand achtete auf ein Poltern in einem vorbeifahrenden Lieferwagen.
In ihrer Hilflosigkeit presste sie die Zähne in den Gummiball, bis ihre Kiefer schmerzten. Ihr Herzschlag raste, aber
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