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Arkadien 02 - Arkadien brennt

Titel: Arkadien 02 - Arkadien brennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war. Iole hatte Rosa durch die Fenster des Unterrichtszimmers auf dem Hof beobachtet und war hinausgestürmt, ungeachtet aller Einwände der empörten Lehrerin. Sie war Rosa in die Werkzeugkammer gefolgt, wo die Gartengeräte und andere Utensilien aufbewahrt wurden.
    »Iole! Signorina Alcantara!« Die Lehrerin wirbelte mehrere Meter hinter Iole aufgebracht mit den Armen. »Nun hören Sie mir doch bitte einmal zu.«
    Rosa lief weiter.
    »Sag schon«, verlangte Iole, »was willst du mit dem Ding?«
    Rosa gab keine Antwort. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Womöglich würde sie es sich anders überlegen, wenn sie laut aussprach, was sie vorhatte.
    Sie lief um die Südostecke des Palazzo auf den ungepflegten Weg, der zur bergauf gewandten Seite des Anwesens führte. Vor vier Monaten, anlässlich der Bestattung von Zoe und Florinda, waren Unkraut und Bodendecker entfernt worden, die zuvor den Weg überwuchert hatten; einiges davon war im milden Winterklima Siziliens nachgewachsen, wenn auch nicht so wild wie zuvor. Die Schatten der Kastanien an der Grenze zum Pinienwald weiter oben auf dem Berg reichten um diese Uhrzeit nicht bis zur Ostfassade. Um elf Uhr morgens stand die Sonne schon zu hoch, sie glühte matt am diesigen Februarhimmel.
    Im Laufen drehte Rosa die Hacke in den Händen, um sich nicht das Bein an der rostigen Eisenspitze aufzureißen. Das Werkzeug sah aus, als wäre es seit Jahren nicht benutzt worden.
    »Signorina!«, rief die Lehrerin abermals, als auch sie um die Ecke des Gemäuers bog. Sie schien entschlossen, sich nicht abhängen zu lassen. »Was soll denn das?« Und ganz uncharakteristisch fügte sie einen halb verschluckten Fluch hinzu.
    Rosa stürmte zum Eingang der Grabkapelle. Der kleine Anbau duckte sich verstohlen gegen die Fassade, als wäre den Bauherren des Palazzo zu spät eingefallen, dass sie nirgends einen Ort für Andacht und Gebet eingeplant hatten. Tatsächlich bezweifelte Rosa, dass im Palazzo überhaupt je gebetet worden war. In einer Nische über dem Portal hing eine gusseiserne Glocke, tiefschwarz, als wäre sie einst mit Pech übergossen worden.
    Unmittelbar vor dem Eingang hielt Rosa inne. Sie hörte Ioles Schritte hinter sich, erwog kurz, ob sie ihr verbieten sollte, näher zu kommen, verlor aber die Geduld und stieß die beiden Torflügel nach innen. Alle Türen im Palazzo quietschten, doch keine so laut wie diese. Signora Falchi, mehr als zehn Meter entfernt, seufzte »Heilige Muttergottes!« und wurde langsamer.
    Die Hände fest um den Griff der Spitzhacke geschlossen, betrat Rosa die Kapelle. Im Inneren roch es nach modrigem Mauerwerk und verwelkten Blumen, obwohl der Blütenschmuck der letzten Beisetzung längst entfernt worden war. Die Gerüche vergessener Trauerfeiern schienen sich tief in den Wänden und dem verblassten Heiligenfresko unter der Decke festgesetzt zu haben.
    Die Stirnwand und die Seiten waren mit einem Schachbrettmuster aus Granitplatten überzogen, je drei übereinander. Rosa wusste nicht, wann der erste ihrer Vorfahren hier bestattet worden war, aber sie vermutete, dass der Stammbaum einige Jahrhunderte zurückreichte.
    Costanzas Grab befand sich an der Stirnwand, hinter dem schmucklosen Altar, der sich im rückwärtigen Teil der Kapelle erhob. Rosa trat vor das Wandfach und ließ das schwere Ende der Spitzhacke los. Das Eisen krachte auf den Steinboden. Der Laut vibrierte durch den hohen Raum. Die Glocke an der Außenseite schien mit einem tiefen Klingen darauf zu antworten.
    Rosas Fingerspitzen berührten die eingemeißelten Buchstaben in der Granitoberfläche. Costanza Alcantara . Schwarzer Staub hatte sich in den Lettern festgesetzt. Instinktiv wischte sie sich die Finger an ihrer Hose ab. Es gab kein Geburts- und kein Todesdatum, genau wie auf all den anderen Grabmalen. Nur Namen. Als spielte es keine Rolle, wann die einzelnen Familienmitglieder gelebt hatten. Wichtig war nur, dass sie die Ahnenreihe der Alcantaras fortgesetzt und das Überleben der Dynastie gesichert hatten.
    Iole stolperte zur Tür herein, kurz darauf gefolgt von der Lehrerin. Beide blieben wortlos stehen. Rosa spürte ihre Blicke im Rücken.
    Sie legte die Hand flach auf die Steinplatte, wie um zu fühlen, ob sich dahinter etwas bewegte. Ein wenig von dem Schmutz war unter ihre Fingernägel geraten; sie sah ihn trotz des schwarzen Lacks, den sie nach jeder Verwandlung von neuem auftragen musste. Eine Weile schon bemühte sie sich, nicht mehr an den Nägeln zu kauen.

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