Arkadien 03 - Arkadien fällt
Breites schob sich herein. Die Öffnung war zu schmal für das Biest, selbst mit angelegten Schwingen passte die Harpyie kaum hindurch. Ein gelber Hakenschnabel schimmerte in ihrem Gesicht und die runden Augen glänzten.
»Runter!«, brüllte eine Stimme, diesmal aus der anderen Richtung, aus der halb offenen Tür zum vorderen Waggon.
Rosa reagierte schneller als Alessandro. Während er sich noch umdrehte, um zu sehen, was da auf sie zukam, packte sie ihn schon am Arm und zerrte ihn mit sich zwischen zwei Sitzbänke.
In rascher Folge flammte Mündungsfeuer auf. Mehrere Schüsse peitschten über sie hinweg. Für zwei, drei Sekunden war Rosa fast taub, sie sah das Aufblitzen, hörte aber nichts als ein dumpfes Pochen, als die Waffe ein ums andere Mal abgefeuert wurde. Ein beißender Geruch breitete sich aus.
Als sie vorsichtig die Blicke hoben, hing die Harpyie mit abgespreizten Flügeln über den Sitzen am Ende des Gangs, der Kopf baumelte vornüber. Die Rückverwandlung zum Menschen setzte bereits ein. Die Schwingen bildeten sich zurück, der Körper verlor den Halt. Polternd fiel er zwischen den Bänken zu Boden.
»Los, hoch!«, wies die Stimme sie an, und da erst wurde Rosa bewusst, dass es die alte Frau war. Als sie sich erhoben, überragte Rosa sie um fast einen Kopf. Sie war sehr schmal, fast knochig, und trug jetzt keinen Hut mehr. Ihr schütteres Haar war kurz und schlecht frisiert.
Das Handy lag auf einem der Sitze und beschien das Gesicht der Frau von unten. »Ihr müsst mit mir kommen«, befahl sie und deutete mit einer automatischen Pistole zum vorderen Durchgang.
»Da sind noch mehr von denen.« Alessandro blieb zwischen ihr und Rosa. Nur für den Fall.
Weitere Schüsse krachten. Etwas Großes wurde rückwärts auf die Tür zugeschleudert, prallte gegen den Rahmen und verlor helle Federn, die wolkig in den Waggon stoben. Ein Habichtschrei drang aus dem Schnabel der Harpyie, während sie eine schnelle Drehung ihres Körpers zu Stande brachte und erneut mit aller Kraft durch die Tür drängte.
Die alte Frau drückte ab. Ihre Kugel schlug in die flache Vogelstirn und tötete das Biest auf der Stelle. Noch während der Raubvogel zu einer Frau mit blondem Haar wurde, tauchte hinter ihr aus dem Dunkel der Mann auf, der vorhin neben der Alten gesessen hatte. Auch er hielt eine silberne Automatik.
»Wir hatten gehofft, euch am nächsten Bahnhof aus dem Zug schaffen zu können«, sagte er. »Aber die Malandras sind mit euch eingestiegen. Ein paar müssen auch hier im Tunnel gewartet haben, sonst wären es nie und nimmer so viele.«
»Wer sind Sie?«, fragte Rosa die Frau.
»Diejenigen, die euch hier rausholen, falls ihr euch endlich in Bewegung setzt. Und dabei am besten den Mund haltet.«
Halb erwartete Rosa, dass Alessandro widersprechen würde, aber er überraschte sie mit Zurückhaltung.
Sie traten zu der Frau auf den Mittelgang, stiegen über den Leichnam der Harpyie und folgten dem Mann in den nächsten Waggon. Weit hinter ihnen war das Jammern und Weinen der Verletzten zu hören. Rosa versuchte es auszublenden.
Irgendwo schaltete sich summend die Elektronik ein. Zugleich sprang die Notbeleuchtung an. Schwefelig gelber Lichtschein drang in weiten Abständen aus Lampen an der Decke.
Die vier durchquerten den leeren Wagen mit den Einzelabteilen. Der Mann eilte voraus, die alte Frau bildete den Abschluss. Sie bewegte sich erstaunlich schnell, als wäre ihr gebrechliches Äußeres nur ein Kostüm, unter dem sich jemand ganz anderes verbarg. Jung, durchtrainiert und äußerst erfahren in dem, was sie gerade tat.
Der Gedanke ging Rosa nicht mehr aus dem Kopf, bis sie den nächsten Großraumwaggon betraten. So intensiv war der Gestank nach Blut, dass sie wie angewurzelt stehen blieb, noch ehe sie die Leichen entdeckte. Erst als die Frau sie weiterdrängte, fiel ihr Blick auf das, was die Harpyien angerichtet hatten.
Acht Passagiere waren den Malandras zum Opfer gefallen. Sie lagen eingeklemmt zwischen Sitzbänken, verdreht über Rückenlehnen, der Schaffner hingestreckt auf dem Mittelgang. Fensterscheiben, Wände, sogar die Decke – alles war in Rot getaucht.
Drei Harpyien hatten hier gewütet, sie lagen erschossen zwischen den übrigen Leichen und unterschieden sich nur von ihnen, weil sie keine Kleidung trugen. Das Gemetzel war ein Vorgeschmack auf das, was der Hungrige Mann allen Arkadiern in Aussicht stellte: die Rückkehr zu den Sitten der Antike, zum Töten um des Tötens willen, um den
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