Arktis-Plan
Sie hatte eine kleine Packung Aufputschmittel im Gepäck, aber das chemisch hervorgerufene übersteigerte Selbstvertrauen, das damit einherging, konnte sie nicht leiden. Sie wusste auch, dass sie zusammenklappen und zu nichts mehr zu gebrauchen sein würde, sowie die Wirkung des Mittels nachließ.
Sie rieb sich die brennenden Augen und sah durch die vom Frost und Nebel beschlagenen Fenster der Baracke hinaus. Der Anblick, den sie sich erhoffte, war Jons Rückkehr ins Lager. Sie wünschte sich nichts weiter als ein Weilchen in ihrer Wachsamkeit nachlassen zu dürfen. Nichts weiter als für ein oder zwei Minuten die Augen zu schließen.
»Ms. Russell, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Dr. Trowbridge besorgt.
Randi nahm ruckartig eine aufrechte Haltung ein. Ihre Augen waren für einen Moment zugefallen, und sie hatte auf dem Hocker gewankt.
»Ja, Dr. Trowbridge, mir geht es gut.« Sie stand auf und ohrfeigte sich innerlich, um wieder zu ihrer Wachsamkeit zurückzufinden.
Sie bekam mit, dass Kropodkin drüben in seiner Ecke hämisch grinste, da ihm ihre zunehmende Ermattung nicht entging.
»Also gut«, sagte sie und drehte sich abrupt zu ihm um. »Es ist an der Zeit, dass uns jemand sagt, wie er den großen Transceiver durch einen Sabotageakt unbrauchbar gemacht hat.«
»Ich habe das Funkgerät nicht angerührt! Ich habe nichts getan!
« Die Worte kamen breiig durch seine geplatzten und geschwollenen Lippen. »Und ich habe auch niemandem etwas angetan.« In seinen Augen stand ein böswilliges Funkeln, als er Randi ins Gesicht sah, doch seine Worte klangen kläglich. »Dr. Trowbridge, können Sie mir diese Irre nicht vom Leib halten, bis ich ordentlichen Polizisten übergeben werden kann? Ich bin nicht scharf auf weitere Prügel.«
»Bitte, Ms. Russell«, setzte Trowbridge matt und leiernd an, »wenn staatliche Stellen bereits auf dem Weg sind, kann das dann nicht aufgeschoben werden …«
Randi schüttelte unwillig den Kopf. »In Ordnung, Dr. Trowbridge, ich lasse es sein.«
Den ganzen Vormittag über waren Trowbridges Bewegungen und Worte die eines Mannes gewesen, der in einem Alptraum gefangen ist. Und in diesem Alptraum war Randi eines der größten Ungeheuer. Als moderner, relativ gut gestellter Städter lebte er in einer Welt, in der Gewalttätigkeit und Tod im Grunde genommen abstrakte Begriffe waren, etwas, worüber in den Fernsehnachrichten bisweilen Besorgnis geäußert wurde oder das man sich durch die Unterhaltungsmedien aus zweiter Hand zu Gemüte führte. Jetzt erlebte er es authentisch, bekam es aus nächster Nähe und am eigenen Leib mit. Und wie das Opfer eines schweren Autounfalls oder einer Naturkatastrophe versank der Akademiker zunehmend tiefer in einen traumatischen Zustand emotionalen Schocks. Randi erkannte die Symptome.
Noch schlimmer war, dass er sie in der Rolle des Schurken sah. Bisher war sie die Einzige gewesen, deren Gewalttätigkeit er gesehen hatte. In einer Popkultur, in der ausgefeilte Verschwörungstheorien und Akte-X-Ängste groß in Mode waren, war sie im übertragenen Sinne, wenn schon keiner der »Men in Black«, dann doch die Frau in Schwarz.
Stefan Kropodkin stand in diesem Rahmen stellvertretend für die Normalität. Er war der strebsame Student, das eifrige Gesicht in
der ersten Reihe des Hörsaals, der vertraute Name auf Seminararbeiten und der Liste der Expeditionsteilnehmer. Randi war die »Agentin, die für eine dubiose Regierungsstelle arbeitete«, das personifizierte Böse im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Jedes Mal, wenn er sie ansah, konnte sie die Furcht in Trowbridges Augen sehen. Sie konnte aber auch sehen, dass sich Kropodkin diese Furcht zunutze machte. Jede Versuch, diese zugewiesenen Rollen zu berichtigen, wäre vergeblich gewesen.
Himmel, die Lage war hoffnungslos verfahren!
Sie schnappte sich ihre MP5 und ging in den Funkraum. Dort setzte sie sich vor das geöffnete Gehäuse, überprüfte zum hundertsten Mal die Komponenten und Einstellungen des großen Sideband-Geräts und unternahm einen letzten zwecklosen Versuch, es anzuschalten und seinem leisen Zischen zu lauschen.
Randi schloss die Augen und legte ihr Gesicht in ihre Hände.
Es musste an den Antennen liegen! Die Schaltkreise für den Empfang waren in Ordnung, aber sie übertrugen den Krach des Solarsturms nicht. Sie hatte die Lautstärke so hoch aufgedreht, dass die atmosphärischen Störungen die Lautsprecher eigentlich von den Wänden reißen müssten.
Als Kropodkin das Gerät
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