Arktis-Plan
Schuss?
Ihre Hände! Gott im Himmel! Ihre Hände!
Dort unten begann eine Auseinandersetzung! Macht schon! Jetzt macht schon! Bevor ich runterfalle und direkt auf euch lande! Wer würde gewinnen? Die Müden oder die Einsatzfreudigen? Ich bin tot, verdammt nochmal! Unter einer Schneelawine begraben! Das sollte euren miesen rothaarigen Mistkerl von einem Boss zufriedenstellen!
Sie setzten sich in Bewegung. Sie kehrten um. Sie gingen weg. Nach einer Ewigkeit gingen sie. Und niemand hatte nach oben geblickt.
Randi musste den Aufstieg fortsetzen. Sie konnte nur beten, dass sie wirklich nur noch eine kurze Wegstrecke vor sich hatte. Sie hatte kein Gefühl mehr in den Händen, und sie würde nicht hier runterkommen, ohne entweder in den Tod zu stürzen oder ihre Hände zu verlieren.
Nur noch ein paar Meter.
Wieder die Suche nach einem Halt für ihre Zehen. Mittlerweile war ihr egal, ob es ein sicherer Halt war oder nicht. Wieder hievte sie ihren vor Kälte zitternden Körper einen knappen halben Meter höher, und wieder … und wieder … Noch einmal nach oben greifen
und etwas finden, worum sich diese tauben Krallen schließen konnten. Etwas … Weiches. Schnee, die Abbruchkante der Wechte. Sie war oben angelangt! Ein letzter kräftiger Ruck und sie grub sich wie ein Wurm durch die Schneewehe am Rande der Felswand. Sie kam am anderen Ende heraus. Sie hatte es geschafft!
Randi zog sich auf ihre Knie. Gefühllos fummelte sie herum, um die Ärmel des Hemds und des Sweatshirts wieder über ihre tauben Hände zu streifen. Unter dem Hemd verschränkte sie die Arme vor der Brust und klemmte ihre Hände in die Achselhöhlen. Zitternd wiegte sie sich und wartete voller Grauen. Langsam, ganz langsam, kam der Schmerz, der furchtbare, glühende Schmerz, als die Durchblutung wieder einsetzte. Es war ein wunderbares Gefühl. Lange Zeit kniete sie dort und kostete die Qualen aus, während ihr Tränen über das Gesicht strömten.
Aber sie konnte fühlen, wie ihre Tränen gefroren. Als sich die Taubheit aus ihren Händen zurückzog, nahm sie die tiefer sitzende Kälte wieder wahr, die sie von Kopf bis Fuß durchdrang und bis ins Mark reichte. Hier oben wehte der Wind kräftiger und durchdringender und peitschte den Schnee noch brutaler vor sich her.
Das sollte ihr eigentlich etwas sagen, aber ihre geistigen Fähigkeiten waren derart eingeschränkt, dass sie keine Schlüsse daraus ziehen konnte. Jetzt war sie einem Todfeind in die Hände gefallen, der sich verstohlen anschlich – der Unterkühlung.
Bewegung. Sie musste sich bewegen. Sie mobilisierte die allerletzten Energiereserven und zwang sich aufzustehen. Ihre Arme behielt sie unter dem Hemd und dem Sweatshirt verschränkt, während sie sich mühsam einen Weg durch die Schneeverwehungen zu bahnen versuchte. Warum war der Wind hier oben so viel schlimmer? Benebelt tastete sie sich an den Gedanken heran. Natürlich, sie musste ganz oben auf dem Felsgrat sein. Windwärts war nichts mehr, das die heftigen Böen abhielt.
Aber was hatte das zu bedeuten? Warum war das wichtig?
Randi kämpfte sich einen Meter weiter vor, machte noch einen
Schritt und rang gegen den Schnee und die Dunkelheit; und dann war plötzlich nichts mehr unter ihrem linken Stiefel. Sie hörte das Knirschen einer weiteren absackenden Schneewechte, und der Schnee um sie herum geriet in Bewegung. Sie fiel mit ihm, sank in ihn ein und ging darin unter.
Aber warum war das wichtig?
Kapitel zweiundvierzig
Nordwand, Wednesday Island
Das Kletterseil spulte sich ab, während es über die Kante lief und zu der angepeilten Felsbank hinunterglitt. Im Licht des Leuchtstabs, den Smith hinabgeworfen hatte, war sie vage zu erkennen.
»Ich werde dich an einem Doppelseil hinablassen.« Jon Smith zog eine Schlinge des Seils durch einen Karabinerhaken, der an Valentina Metraces Klettergurt befestigt war. »Den größten Teil deines Gewichts werde ich am Sicherungsseil halten.« Er brachte das zweite Seil an. »Du brauchst nichts weiter zu tun als rückwärts an dem Bergschrund runterzuklettern und dafür zu sorgen, dass sich das Hauptseil nicht verheddert, während es durch den Karabinerhaken läuft.«
»In Ordnung. Kein Problem. Was ist ein Bergschrund?«
Smith lächelte im Schein ihrer Leuchtstäbe nachsichtig. »Das ist die Schnittstelle zwischen dem Berg und dem Gletscher.« Seine Gesichtszüge mit den dunklen Bartstoppeln wirkten müde, aber auch zuversichtlich, ganz so, als wäre es für ihn das
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