Arm und Reich
noch nicht auf ihrem Speiseplan. Nicht einmal die Kunst des Fischfangs beherrschten sie: In Fundstätten direkt an der Küste kamen weder Fischknochen noch Angelhaken zum Vorschein. Von modernen Menschen konnte man bei diesen Geschöpfen noch genausowenig sprechen wie bei den Neandertalern, die zur gleichen Zeit lebten.
Vor rund 50 000 Jahren fiel endlich der Startschuß für die Menschheitsgeschichte, und der »große Sprung nach vorn«, wie ich diese Phase nenne, begann. Die frühesten eindeutigen Belege für jene Entwicklung stammen aus Fundstätten in Ostafrika, in denen standardisierte Steinwerkzeuge und der erste erhaltene Schmuck (Perlenketten aus Schalen von Straußeneiern) zutage kamen. Ähnliche Entwicklungen folgten kurz darauf im Nahen Osten und in Südosteuropa, dann (vor rund 40 000 Jahren) auch in Südwesteuropa, wo eine Fülle von Artefakten auftauchten, die mit Funden anatomisch völlig moderner Skelette von Menschen, die als Cromagnonrasse bezeichnet werden, im Zusammenhang standen. Von da an wird der an archäologischen Stätten gefundene Abfall rasch immer interessanter und läßt keinen Zweifel mehr daran, daß wir es mit nicht nur biologisch, sondern auch vom Verhalten her modernen Menschen zu tun haben.
Von Cromagnon-Menschen hinterlassene Abfallhaufen enthalten nicht nur Werkzeuge aus Stein, sondern auch aus Knochen, deren Eignung als Werkstoff (z. B. zur Herstellung von Angelhaken) früheren Menschen offenbar entgangen war. Werkzeuge wurden in vielfältigen, eindeutigen Formen angefertigt, die so modern waren, daß ihre Funktionen als Nadeln, Ahlen, Gravierwerkzeuge usw. für uns noch heute klar erkennbar sind. Neben einteiligen Werkzeugen, wie zum Beispiel Schabern, wurden nun erstmals auch mehrteilige Werkzeuge gefunden. Zu den mehrteiligen Waffen, die an Cro-Magnon-Fundstätten zum Vorschein kamen, zählten unter anderem Harpunen, Speer schleudern und schließlich auch Pfeil und Bogen, die Vorläufer von Flinten und anderen mehrteiligen Waffen der Neuzeit. Die so gewonnene Fähigkeit, aus sicherer Entfernung zu töten, ermöglichte das Jagen so gefährlicher Tiere wie Nashörner und Elefanten, während die Erfindung des Seils, aus dem Netze, Angelschnüre und Schlingen hergestellt werden konnten, zur Erweiterung unseres Speiseplans um Fisch und Vögel führte. Überreste von Häusern und genähter Kleidung belegen die stark gewachsene Fähigkeit zum Überleben in kaltem Klima, während Schmuck und sorgfältig begrabene Skelette von revolutionären Veränderungen in ästhetischer und spiritueller Hinsicht zeugen.
Die bekannteste Hinterlassenschaft der Cromagnons sind die Zeugnisse ihres künstlerischen Schaffens in Form grandioser Höhlenmalereien, Statuen und Musikinstrumente, die heute noch als Kunst betrachtet werden. Jeder, der die überwältigende Kraft der lebensgroßen Pferde- und Stiergemälde in der Höhle von Lascaux in Südwestfrankreich auf sich wirken läßt, begreift sofort, daß die Urheber geistig ebenso modern gewesen sein müssen wie anatomisch.
Im Zeitraum vor 100 000 bis 50 000 Jahren vollzog sich offenbar ein folgenschwerer Wandel in den Fähigkeiten unserer Vorfahren. Der »große Sprung nach vorn« wirft zwei wichtige, bis heute ungeklärte Fragen auf: die nach der Ursache und die nach dem Ort des Geschehens. Zur Ursache habe ich in meinem Buch Der Dritte Schimpanse auf eine Vervollkommnung des Stimmapparats und somit die Entstehung der anatomischen Grundlage der Sprache, von der die menschliche Kreativität in so hohem Maße abhängt, als Möglichkeit hingewiesen. Andere Autoren gehen davon aus, daß in jener Zeit eine Veränderung in der Organisation des Gehirns eintrat, die bei unverändertem Hirnvolumen die Entstehung der Sprache ermöglichte.
Mit Blick auf die Geographie des »großen Sprungs« stellt sich die Frage, ob er weitgehend in einem einzigen geographischen Raum stattfand und die dort lebenden Menschen in die Lage versetzte, sich in andere Teile der Welt auszubreiten und die dortigen menschlichen Populationen zu verdrängen, oder ob er sich in verschiedenen Regionen parallel abspielte. Im zweiten Fall würde es sich bei jeder der heutigen Populationen in den betreffenden Gebieten um Nachfahren der vor dem »großen Sprung« dort lebenden Populationen handeln. Die relativ modern wirkenden Schädel aus Afrika aus der Zeit vor ungefähr 100 000 Jahren wurden als Indiz für die erste
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