Arminius
letztlich entschieden Wurt, Werdandi und Scult, und nicht sie selbst. Doch Arminius sah noch mehr, und das sollte ihn immer stärker beeindrucken: Aus ihrem Blick sprach eine Ungebundenheit, die sie miteinander verband. Mochten sie auch lügen, betrügen und saufen – nicht Freiheit war es, sondern eine innere Ungebundenheit, die aus ihren Gesichtern sprach, ganz gleich, zu welchem Stamm sie gehörten. Jeder von ihnen war weder Masse noch Funktion, sondern ein Einzelmensch.
Plötzlich durchfuhr Arminius ein Gedanke mit einer Heftigkeit, die ihn kurz schwanken ließ und ihn verunsicherte. Hatte er wirklich Sachsen und Cherusker, Semnonen und Langobarden, Marser und Chauken vor sich? Oder waren sie alle, all die Männer, die tausend Stämmen angehören mochten, wie die Römer spotteten, nicht im Grunde ihres Wesens Angehörige eines einzigen Volkes, waren sie nicht alle Germanen? Hatten die Römer nicht recht damit, dass sie die Provinz Germania magna nannten? Obwohl sie ihr altes Herrschaftsspiel von ›Teile und herrsche‹ spielten, sahen die Römer alle diese Männer als Germanen an. Und wahrlich, Germanen waren sie, und so wollte er sie nennen.
Nachdem Gerwulf ihn den Truppen vorgestellt hatte, begann er seine Rede. »Germanen, nicht Cherusker, noch Marser, nicht Ubier, noch Chauken will ich euch künftig nennen, sondern mit einem Ehrennamen bedenken, nämlich mit dem Namen Germanen. So will es auch Rom, denn man nennt diese großartigen Einheiten, die ich fortan führe, germanische Hilfstruppe.« Ein Schauer jagte ihm über den Rücken, als er laut ausrief: »Lasst uns Germanen sein. In diesem Namen lebt unsere Freiheit. In diesem Namen liegt unsere Ehre!«
Die Männer standen stumm da. Jeder von ihnen mochte etwas anderes denken, nur Begeisterung kam bei keinem von ihnen auf. Arminius war es nicht gelungen, ihre Herzen zu berühren. Im Schweigen der Männer trat der Führer der Semnonen nach vorn.
»Erlaube mir eine Frage!«, begann er. Arminius nickte. »Du hast einen Jungen von meinen Leuten aus dem Römerlager mitgebracht. Ich habe ihn schon tot geglaubt. Was wird mit ihm?«
»Du meinst den Deserteur?«
Der Semnone wog nachdenklich den Kopf. »Er ist kein schlechter Junge. Und ob er ein Deserteur ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ihn das Heimweh übermannt hat. Verstehst du das?«
Und ob Arminius das verstand, dennoch ließ er sich keine Regung anmerken.
»Aus welchem Grund auch immer, aber er ist weggelaufen. Darauf steht die Gasse oder das Zu-Tode-gepeitscht-werden.«
Die Miene des Mannes verdüsterte sich. Und dann kniete er nieder. »Ich bitte dich …«
Weiter kam er nicht, denn Arminius verbot ihm mit einer Handbewegung jedes weitere Wort. Mit drei Schritten war er bei dem knienden Krieger und zog ihn hinauf.
»Knie nie wieder vor mir, Germane!«, herrschte er ihn an. »Und was den Jüngling betrifft: Er soll weder getötet, noch gepeitscht, noch anderweitig bestraft werden. Er ist noch so jung, jung genug, um zu lernen. Er bleibt bei mir, als mein persönlicher Adjutant.«
Jubel brach im Lager aus. Der Semnone schlang seine Arme um Arminius. Velleius, der um seinen Freund fürchtete, griff schon nach seinem Schwert, doch Gerwulf legte beruhigend die Hand auf die seine.
Arminius fühlte sich wie zwischen zwei riesigen Mahlsteinen. Während der Mann ihn aus lauter Freude fast zerdrückte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Du hast einem Vater den Sohn zum zweiten Mal geboren. Pass mir gut auf ihn auf!«
»Das tue ich, aber jetzt lass mich los, sonst werde ich keine Gelegenheit mehr dazu haben«, stöhnte Arminius.
Der Semnone löste seine Arme, aber nur, um sich den neuen Kommandanten auf die Schulter zu heben. Nun kannten die Freude und die begeisterten Zurufe keine Grenzen mehr.
Nachdem er alle Einheiten abgeschritten, Freund Velleius verabschiedet und schließlich mit den Führern der Stammesabteilungen getafelt, getrunken, gescherzt und geredet hatte, holte Arminius den Jüngling aus dem Gefängnis und verließ mit ihm das Lager. Schweigend gingen sie eine vom Vollmond und den Sternen beschienene Strecke Weges. Auf einer Anhöhe, von der ein Weg in den Wald und einer zur Straße, die zum Rhenus führte, abgingen, blieb Arminius stehen.
»Du kannst wählen, entweder du läufst nach Hause, oder du bleibst bei mir, als mein persönlicher Offizier. Der Weg vor uns führt in die Freiheit und der Weg hinter uns zur Ausbildung.«
»Ich darf wirklich nach Hause, ohne dass ich wieder
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