Arminius
Ausgekämpft, er hat ausgekämpft, durchfuhr es Julius, der in diesen Minuten an jedem anderen Ort der Welt lieber gewesen wäre, nur nicht hier, eher in der Arena mit wilden Tieren als am Sterbebett des Vaters. Er spürte den harten Griff der Mutter, die seine Hand fest umspannt hielt. Dann plötzlich ließ sie ihn los. Es war wie ein kleines Wunder. Julius brachte es über sich, an das große Eichenbett zu treten. Selbst als der Vater tastend seine Hand nahm, ertrug es der Junge das erste Mal seit ihrer Flucht von der Albis.
Sie spürten einander, der sterbende Feldherr die wachsende Kraft seines Sohnes und Julius das entweichende Leben seines Vaters, seine letzten Energien, die auf ihn überzugehen schienen. Mit schwacher, aber gefasster Stimme sprach Drusus: »Dein Onkel Tiberius wird sich um dich kümmern. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.«
Julius spürte, dass der Vater gegen den Tod kämpfte, dass er um Wimpernschläge feilschte und focht, um seinen Sohn noch einmal anblicken zu können, dass ihm die Kraft für diesen Blick das Wichtigste auf der Welt war und dass er mit dem ganzen Körper darum stritt, bei ihm bleiben zu können.
»Vater!« Drusus sah seinen Sohn an. Aus Angst, dass seine Fragen ihr Ziel nicht mehr erreichten, stieß Julius hervor: »Warum bist du an der Albis umgekehrt?«
»Weil ich zutiefst erschrocken war.«
»Über die Kraft der Germanen, über die Gewalt ihrer Götter?«
Schon auf dem Weg in eine andere Welt flüsterte Drusus kaum hörbar: »Nein, über uns Römer, mein Sohn.«
Und mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen starb Nero Claudius Drusus, der größte Feldherr seiner Zeit, mit neunundzwanzig Jahren, während seine Finger noch die Hand seines Sohnes umschlossen, der nicht verstand, was ihm jetzt widerfuhr: Im Augenblick des Todes ging die Kraft des Vaters tatsächlich auf ihn über. Gleichzeitig durchdrangen ihn zwei gegensätzliche Empfindungen: die Wärme unermesslicher Kräfte und die Kälte des endgültigen Verlustes. Sieht der Sohn sein Ende im Tod des Vaters?
7
Plötzlich war die Luft von Geschrei und Gezeter erfüllt. Tiberius zügelte seinen Rappen und wandte sich um.
Ein Centurio sprengte heran: »Imperator, der Bengel ist weg!«
Der Feldherr brauchte gar nicht erst zu fragen, nichts war in diesem Augenblick gewisser, als dass der Legionär den kleineren der beiden Fürstensöhne meinte, den mit dem aufrührerischen Blick. »Seht zu, dass ihr die Geisel wieder einfangt! Und beeilt euch, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Tiberius ließ seinen Blick durch den dichten Wald streifen und schüttelte den Kopf. Der kleine Strolch wird sich während des Galopps vom Widerrist des Pferdes geschwungen haben, dachte er. Eine lebensgefährliche Aktion, denn leicht hätte er dabei von den Hufen des Pferdes oder denen der nachfolgenden Tiere getroffen und zu Tod getrampelt werden können. Dennoch hatte der Knabe es gewagt. Und wofür? Die Frage traf den Römer wie ein brennender Pfeil. Für die Freiheit. Dieses seltsame Trugbild.
Klare Begriffe wie Pflicht verstand Tiberius, Ehre auch, Tugend natürlich und Sitte, all das. Aber Freiheit? Dieses schillernde Wort, mit dem etwas Vielschichtiges, Unreines, Chaotisches in eine Form gepresst wurde – damit konnte er beim besten Willen nichts anfangen. Wer in Rom von Freiheit sprach, meinte damit nur seine Zügellosigkeit. Allein die Senatoren, denen es einzig um die Erringung von Macht und Reichtum ging, führten das Wort Freiheit ständig im Munde. Das römische Volk hingegen hatte Angst vor der Freiheit und flüchtete bei jeder sich bietenden Gelegenheit lieber in die Wärme und den Schutz der Unfreiheit, die Geborgenheit bot.
Wie in Rom war es im ganzen Imperium, nur eben nicht bei den Germanen. Was aber soll man von Leuten halten, die statt Geborgenheit die Kälte wählen?, fragte sich der Feldherr, schob den Gedanken aber sogleich beiseite und befahl seinem Adjutanten knapp: »Du bleibst hier.« Dann gab er seinem Pferd die Sporen.
Tiberius spürte, dass es nur ihm gelingen würde, den Jungen aufzustöbern. Und er musste ihn finden, koste es, was es wolle. Kein Barbar nähme ihnen ab, dass dem Kleinen die Flucht geglückt sei, vielmehr glaubten alle, dass die Römer die Geisel getötet hätten, und das würde neuen Aufruhr im Land entbrennen lassen. Ganz abgesehen von der Blamage, dass es einem Kind gelungen wäre, den besten Kriegern der Welt zu entwischen. Und dabei, gestand sich der Feldherr ein, hatte der
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