Arminius
auf Erden in ihren Fängen halten würde. Ohne Aussicht auf Erfolg war jeder Versuch, ihr zu entkommen. Leichter schnitt man sich Hand, Nase, Füße ab, als sich die Wurzeln der Einsamkeit aus dem Herzen zu reißen. Jeder Schutz ist auch ein Gefängnis, dachte Tiberius, jeder Panzer eine Abschnürung der eigenen Existenz.
Sein Vater, der ebenfalls Nero Claudius Tiberius hieß, hatte in den Bürgerkriegen beständig die Seiten gewechselt. Bei keiner der kämpfenden Parteien war es ihm geglückt, heimisch zu werden. Und da die Glücksgöttin sich von ihm fernhielt, wählte er mit zielsicherer Hand immer die Seite der Verlierer. In den ersten Jahren seines Lebens hatte der kleine Tiberius höchstens ein paar Monate an ein und demselben Ort zugebracht. Die Familie hatte sich fortwährend auf der Flucht befunden: von Perusia nach Rom, von da nach Ägypten, dann nach Sizilien.
Am Ende der Bürgerkriege hatte sich der Vater dem siegreichen Octavian unterworfen und überdies Verständnis gezeigt für die heftige Leidenschaft, die der neue Herrscher, der sich von jetzt an Augustus nannte, für seine Ehefrau empfand, Tiberius’ Mutter Livia. So ließ er sich scheiden und brachte Augustus seine schwangere Frau persönlich ins Haus, um sich mit seinem dreijährigen Sohn Tiberius in seine Villa auf dem Esquilin zurückzuziehen.
Nur drei Monate später wurde Livias zweiter Sohn, Drusus, geboren, von dem das Gerücht ging, er sei eigentlich der bereits im Ehebruch gezeugte Sohn des Augustus. Im Inneren seines Herzens glaubte Tiberius das Gerücht, das ihm seine Amme eingeflüstert hatte, doch – zu Recht misstrauisch – behielt er diese Meinung für sich. So hatte das Kind, kaum, dass es Laufen und Sprechen konnte, die Mutter verloren, als sein Bruder zur Welt kam. Drusus hatte ihn verdrängt.
Bald darauf starb der Vater, und die Mutter nahm ihn in das Herscherhaus auf. Doch Tiberius vermochte Livias Verrat niemals zu verwinden, schon allein deshalb nicht, weil er die Bevorzugung des Drusus täglich wie eine neue Wunde erlitt.
Wegen dieses ungeliebten Halbbruders, der nun im Sterben lag und der alles gehabt hatte, woran es ihm mangelte – Humor, Optimismus, Ausstrahlung, Lebensbejahung, Leutseligkeit und die daraus folgende Beliebtheit –, eilte er nun durch die feindliche Finsternis, um Drusus, den er heimlich für sein gefälliges Wesen hasste, noch lebend anzutreffen. Der nahende Tod des Lieblings des Heeres und des Herrscherhauses nahm eine große Bürde von den Schultern des tristissimus hominum, des traurigsten aller Menschen, wie man Tiberius hinter seinem Rücken nannte, ein Etikett, das der liebe Drusus für ihn erfunden haben mochte. Tiberius’ misstrauisches Wesen zweifelte jedenfalls nicht daran.
Ach, Drusus, er war immer sein Schicksal gewesen! In diesem Moment, tief im Herzynischen Wald, verstand der einsame Mann, was ihn an dem germanischen Jungen faszinierte. In dem widerspenstigen Barbarenspross erkannte Tiberius seine eigene gedemütigte Kinderseele wieder. Er musste sich fast gewaltsam vom Anblick des Knaben losreißen.
»Kommt her, ich habe ihn gefunden«, rief er, worauf seine Soldaten herbeieilten. Der Centurio, dem sich Ergimer vom Pferd gewunden hatte, wollte den Knaben ohrfeigen, doch Tiberius hielt ihn zurück. »Wage es nicht, das Kind für deinen Fehler zu bestrafen. Niemand schlägt den Jungen. Er wird gut behandelt.«
Er wandte sich ab, ging zu seinem Pferd und stieg hastig auf. Die Begegnung hatte ihn aufgewühlt und völlig unerwartet Gefühle zutage gefördert, die tief in seinem Inneren verborgen lagen. Mag der kleine Kerl auch ein Barbar sein, dachte Tiberius, so hat er doch das Zeug zum Römer. Denn den Römer zeichnete nur eine Begabung vor allen anderen Menschen auf der Welt aus, die gleichzeitig seine Bestimmung war: Er war zum Herrschen geboren.
Und dieser Junge, das fühlte der Feldherr instinktiv, war zum Herrschen geboren. Das hatte er den vielen verweichlichten Senatorensöhnchen voraus. Wenn er eines nicht allzu fernen Tages zum Manne gereift sein würde, könnte man mit Kerlen wie ihm die römische Provinz Germanien schaffen. Es würde eine der besten Provinzen des Reiches werden, denn wer solche Männer zu regieren verstünde, der wäre wahrhaft mächtig.
Darin bestand das eigentliche Ziel, weshalb sich der römische Feldherr durch diese Einöde schlug, statt in Rom das Leben zu genießen: Er gedachte diese Bestimmung zu verwirklichen und die Herrschaft noch in die
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