Arminius
Tagen nach Neumond hierher kommen, um Latein zu lernen.«
Elda erschrak über die Forderung des Vaters. Spätestens jetzt würden sich seine Gefolgsleute auf ihn werfen. Sie sah den Hass in ihren Augen, der stärker aufglomm, je mehr sie zur Besinnung kamen, und spürte zugleich die Arme ihrer Mutter, die sich ihr instinktiv beschützend um die Schultern legten.
Segestes blieb eine Weile bewegungslos stehen, dann beugte er sich mit versteinertem Gesicht zu dem Toten hinunter und drückte ihm mit seinen blutigen Fingern die Augen zu.
Tränen standen in seinen Augen, als er flüsterte: »Ach, du alter Raufbold! Wie oft haben wir gemeinsam gefochten, uns gegenseitig das Leben gerettet? Sollen deine Totengeister mich und meine Familie jagen, wenn ich nicht Wort halte, aber ich werde deiner Witwe beistehen, die Wirtschaft zu führen und die Kinder zu erziehen. Von mir sollen deine Söhne, den Speer und das Messer und einen kräftigen Hengst bekommen, das sie brauchen am Tag, an dem sie in die Jungmannschaft aufgenommen werden. Und Speer, Messer und Hengst sollen sich in nichts unterscheiden von denen, die ich meinen eigenen Söhnen mitgeben werde. Nicht weniger schön, nicht weniger hart, nicht weniger schnell.« Segestes wandte sich zu seinen Knechten: »Legt mir den Kadaver da auf sein Pferd. Ich werde ihn selbst zu seiner Witwe bringen! Bei Wotan, er war ein guter Mann! Der Zorngeist war es, mein alter Freund, der dich umgebracht hat.« Die Knechte holten das Pferd des Toten.
Noch einmal blickte Eldas Vater seine Gefolgsleute der Reihe nach an. »Will noch jemand etwas sagen?« Die Männer schwiegen. »Dann geht nach Hause. Ihr wisst, was ich will! Endlich Frieden! Und Wohlstand! Und vergesst nicht, mir dreimal im Monat eure Söhne zu schicken!« Segestes schwang sich auf seinen Rappen, ließ sich die Zügel des Pferdes reichen, auf dem der Tote lag, und trabte los. Die Gefolgsleute bildeten eine schmale Gasse, durch die Segestes hindurch ritt. Dann brachen sie nach Hause auf, schweigend.
Lange sah Elda ihnen nach. Hatte ihr Vater am Ende vielleicht recht? Der Preis für den Frieden mit den Römern war zwar hoch, aber nutzte er letztlich nicht doch den Cheruskern? Weshalb sollten sie nicht von den Römern lernen, wie man zu Wohlstand kommt und das Leben genießt? Dann aber dachte sie wieder an Ergimer. Sie erinnerte sich daran, dass diese neue schöne Zeit damit begann, dass die Fürsten zwei cheruskische Jungen dafür opferten und dass sie für den römischen Frieden Steuern zu zahlen hatten. Aber wie konnten Menschen, die Steuern entrichten müssen, frei sein? Waren sie nicht in Wahrheit Sklaven?
Es drängte Elda mit aller Gewalt dazu, mit jemandem darüber zu sprechen, weil sie Antworten auf ihre Fragen wie die Luft zum Atmen benötigte. Die Ereignisse der letzten Tage hatten das Mädchen verwirrt und die Gewissheiten ihrer kleinen Welt zum Einsturz gebracht. Die Antworten ihres Vaters kannte sie. Die konnte sie nur hinnehmen, drüber streiten ließ er nicht mit sich. Und ihre Mutter würde auf den Vater verweisen. Mit ihren beiden Brüdern zu reden war zwecklos – sie würden nicht einmal ihre Frage verstehen. Es gab nur eine Person, die ihr Antworten geben und ihr damit helfen konnte, Nehalenia, die weise Frau. Doch diese lebte eine Tagesreise entfernt vom Anwesen des Segestes. Elda beschloss, eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um den Hof zu verlassen und zu ihr zu reiten. Bis dahin verschloss sie ihre Unruhe tief im Herzen.
11
Es war seltsam, aber die Römer liebten das frühe Aufstehen. Gleich nach Sonnenaufgang weckte die Schiffsbesatzung erbarmungslos alle Mitreisenden. Eine Weile tappte Arminius wegen der ungewohnt frühen Zeit noch schlaftrunken umher, wurde aber an jedem Morgen sogleich von einem heftigen Strudel des Staunens erfasst, der ihn vollkommen wach machte. Große Schiffe voller Weinfässer oder Getreide kamen ihnen auf dem Fluss entgegen. Und auch was sich am Ufer seinen neugierigen Blicken darbot, glich eher den Gaukeleien einer irrwitzigen Fantasie als der taghellen Wirklichkeit. Kein Wunder, dass der Junge jeden Abend, vom Schwarm der Eindrücke erschöpft, mit Einbruch der Dunkelheit von jetzt auf gleich in tiefen Schlaf sank.
Dann ging es wieder zu Fuß weiter. Arminius sah riesige Ansammlungen von berghohen Häusern und zwischen ihnen mit Steinen ausgelegte Wege, für die es keinen cheruskischen Begriff, sondern nur den lateinischen Namen via gab. Militärlager mit Scharen
Weitere Kostenlose Bücher