Arminius
riss ihn Julius vom Abgrund weg. Zum ersten Mal sah er den früheren Rivalen dankbar an. Aber der rief nur völlig außer sich: »Schau, Arminius, schau doch nur.«
Und Arminius erblickte das Wunder. Er sah, wie sich vor und unter ihm das Land öffnete, links ein großer blauer See, geradeaus Berge und Kuppen und Dörfer und Weiden, rechter Hand Weinberge und Hütten und ein Tempel. So weit das Auge reichte, erkannte er Städte und Villen. Bauern und Sklaven, die in der Tat winzig wie Ameisen wirkten und die auf den Feldern arbeiteten.
»Latium!«, sagte Tiberius stolz, und zum ersten Mal spürte Arminius Wärme in der Stimme des Imperators. »Das alles ist Rom! Der Garten der Erde! Der Himmel der Völker! Der Frieden der Welt! Die Stadt und ihr Weltkreis! Eines Tages werdet ihr darüber herrschen, über das Land hinter uns und über das Land vor uns, über das Land rechts von uns und über das Land links von uns. Ihr müsst dazu nur eines sein – Römer! Denkt nur alles zusammen, alles auf der anderen und auf dieser Seite der Alpen, Transalpina und Cisalpina, das ist das Imperium Romanum. Aber es erstreckt sich auch nach rechts, nach Gallia und Hispania, bis ans große Meer, und nach links ins Noricum, nach Pannonia und Dacia und dann weiter in den Süden, nach Moesia und Graecia, die Wiege der Kultur, nach Troja, woher wir Römer stammen, und nach Bithynien und Kilikien und Kappadokien. Ach, wenn ich euch nur einen Eindruck von der Größe des Imperiums vermitteln könnte!« So bewegt hatten die Kinder Tiberius noch nie gesehen. Gleichzeitig flog ein Lächeln über sein Gesicht, ein kurzes zwar, aber die Jungen hatten es bemerkt.
»Schaut, so weit ihr könnt, und dann blickt auf euren Handteller. Was ihr jetzt seht, ist die Größe des Gesehenen im Vergleich zur Ausdehnung des Imperiums!«
Ungläubig spähte Arminius erst in die Landschaft und dann auf seine flache Hand.
In der folgenden Nacht vermochte Arminius nicht einzuschlafen, obwohl er vollkommen erschöpft war. Wirr flogen die Gedanken durcheinander. Machte er die Augen zu, schien der Schlaf verscheucht zu sein. Öffnete er sie wieder, lachten ihn die Sterne am Himmel aus. So schloss er doch lieber wieder die Lider. Aber der Schlummer wollte sich trotz aller Müdigkeit nicht einstellen. Gehörte ihm denn sein Kopf noch? Die Gedanken zumindest taten, was sie wollten.
Stolz und Furcht ergriffen ihn. Stolz, weil der Römer ihm die Herrschaft prophezeit hatte, und Furcht, weil das Cheruskerland mit all seinen Menschen nur ein Tropfen im Meer war im Vergleich zur Größe des Römischen Reiches. Wird der Tropfen im Meer ersaufen? Was konnten sein Vater und seine Stammesbrüder, die wenigen Menschen gegen die ganze Welt ausrichten?
Am nächsten Tag begannen sie mit dem Abstieg in die norditalienische Ebene. Und auf einmal brach wieder der Sommer an, mitten im Oktober. Regen und Kälte, gefärbte Blätter und welkendes Laub waren wie weggezaubert, seit sie die Alpen hinter sich gelassen hatten und durch das nördliche Latium zogen.
Arminius fühlte sich, als sei er älter geworden. Es kam ihm so vor, als habe jede Meile, die sie zurückgelegt hatten, etwas zu seinem Alter hinzugefügt, so vieler Wunder war er auf dem Weg ansichtig geworden. Aber am stärksten beeindruckte ihn das südliche Licht, diese Helle, die in den Augen zwickte und einfach Freude ins Herz goss. Sie verzauberte ihn geradezu. Bei allen widrigen Umständen, bei aller Sehnsucht nach den Eltern, nach Elda, den Freunden und der Heimat verführte ihn die sanfte Luft zu einem großen und freudigen Staunen. Zu einem ganz und gar unangebrachten Hochgefühl, dessen er sich hin und wieder sogar schämte.
Und noch eines beobachtete er: Je weiter sie vorankamen, desto mehr wuchsen die Aufregung und die Anspannung der Römer, denn vom Süden her zog ihnen das Wunder der Welt entgegen.
Der Regen nahm kein Ende. Das undurchdringliche Grau der Wolken verwandelte sich in eine einzige schmutzige Masse. Segestes kam auf den völlig aufgeweichten Wegen nur langsam voran, weil er achtgab, dass die Pferde im Schlamm Halt fanden. Sein hartes Gemüt ließ ihn weder Reue noch Trauer empfinden. Zwar mochte er den Mann nicht, den er erstochen hatte, und natürlich besaßen seine Gefolgsleute das Recht auf einen eigenen Willen, aber das hieß noch lange nicht, dass er als ihr Fürst auch diesem Willen entsprechen musste. Nicht mehr lange, und die Zusammenarbeit mit den Römern würde reiche Früchte tragen und
Weitere Kostenlose Bücher