Arsen und Apfelwein
ist mittlerweile neunzehn und arbeitet als Friseurin. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter scheint keinen Beruf zu haben. Mindestens zwei Brüder sind noch bei der Adresse gemeldet. Beide ebenfalls arbeitslos. Dann gibt es noch Cousins, die zeitweise da wohnen. Die Kollegen vom Höchster Revier haben sich auch gemeldet. Die Familienangehörigen geben sich gegenseitig ein Alibi.«
»Versuch, Licht in die Verhältnisse zu bringen, bevor wir zu ihnen fahren. Vorher rufst du den Anwalt von Duprais an und erkundigst dich, welche neuen Forderungen sie gestellt haben. Hier ist die Adresse.«
Sascha nickte.
»Gut«, meinte Jenny nachdenklich. »Da wir kaum Hinweise auf den Täter haben, müssen wir uns ein besseres Bild vom Opfer machen. Fangen wir mit der Schule an. Es ist jetzt«, sie blickte auf ihre Armbanduhr, »halb zwölf. Das passt. Anschließend fahren wir zu dem Verbindungshaus. Komm, Logo.«
Logo hatte sich gerade hingesetzt. »Wieder nach Kronberg? Da hätten wir doch gleich vorbeifahren können.«
»Er ging nicht in Kronberg zur Schule, sondern hier in Frankfurt auf eine Privatschule. Gar nicht weit weg, also komm.«
Die noble Privatschule im Frankfurter Westen war durch hohe Mauern von der Außenwelt abgeschottet. Jenny und Logo mussten klingeln, um eingelassen zu werden. Die Stimme aus der Sprechanlage wies ihnen den Weg zum Sekretariat.
Die ältere Schulsekretärin erinnerte sich an Marc Duprais. »Flüchtig natürlich bei den großen Schülerzahlen. Aber er war ja eine auffallende Erscheinung.« Sie ging zu einem Aktenschrank und zog einen schmalen Hefter aus einem Hängeregister.
»Herr Werther war sein Tutor. Wenn jemand Ihnen mehr sagen kann, dann er.« Sie sah auf einen Plan, der an der Wand hing. »Momentan hat er eine Freistunde. Sie dürften ihn im Lehrerzimmer finden, zweiter Stock, Zimmer 207.«
Jenny schaute sich interessiert um, als sie die Treppe in den zweiten Stock hochstiegen. Vieles erinnerte sie an ihre eigene Schulzeit, auch wenn die Treppe damals nicht mit Marmor, sondern mit grünlichem, ausgetretenem Linoleum ausgelegt war.
An den Wänden hingen tatsächlich Gemälde. Was war mit den Jugendlichen hier los? Zu ihrer Schulzeit hätten die Bilder keine Woche überlebt, dann wären sie mit einem Fußball von der Wand geschossen worden.
Wahrscheinlich fanden sich an den Toilettenwänden auch keine Kritzeleien, sondern Fliesen mit Zierborte. Eines änderte sich jedoch nie. Der Geruch nach Schweiß und ungewaschenen Socken, gemischt mit dem eines scharfen Reinigungsmittels hing über allem. Logo klopfte an die Tür des Lehrerzimmers, doch es kam keine Antwort. Kurz entschlossen öffnete er die Tür. Der holzgetäfelte Raum dahinter maß mindestens zehn Meter in der Länge und sah weniger nach einem Lehrerzimmer als nach einem englischen Klub aus.
Gepolsterte Sessel standen wie zufällig im Raum verteilt, an den beiden Längswänden befanden sich zwei lange Sofas. Etwa zehn Plätze waren besetzt und mehrere Köpfe erhoben sich bei ihrem Eintritt.
Logo blickte sich unsicher um. »Herr Werther?«, fragte er laut in den Raum.
Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. In einer entfernten Ecke des Raumes erhob sich ein schmaler, etwa fünfzigjähriger Mann mit zurückweichendem dunklen Haar. Er kam auf sie zu, wobei er einige Bogen um herumstehende Sessel machen musste. Blicke folgten ihm. Vor Jenny und Logo blieb er stehen.
»Ich bin Robert Werther«, stellte er sich vor. »Was kann ich für Sie tun?«
Jenny zeigte ihm ihren Dienstausweis. »Können wir uns vielleicht irgendwo ungestört unterhalten?«
Ohne zu zögern, nickte der Lehrer. »Kommen Sie mit.« Er führte sie über den Gang in ein leer stehendes Klassenzimmer. »Worum geht es?«, fragte er ruhig.
Jenny ergriff das Wort. »Um einen früheren Schüler. Marc Duprais. Sie waren sein Tutor.«
»Was hat er angestellt?«
»Wie kommen Sie darauf, dass er etwas angestellt hat?«
»Warum sollte die Polizei sonst nach ihm fragen?«
»Es könnte ihm auch etwas passiert sein.«
»Wollen Sie es mir nicht sagen? Auch gut. Was möchten Sie über Marc wissen?«
Überrascht von der schnellen Kapitulation, suchte Jenny nach der richtigen Formulierung. »Woran erinnern Sie sich? Gab es Auffälligkeiten während seiner Schulzeit? Hatte er Freunde?«
»Ist er tot? Sonst würden Sie das doch nicht so formulieren?«
Jenny nickte.
Werther Gesicht blieb unbewegt. »Er war … ich glaube das Wort außergewöhnlich trifft es
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