Artefakt
ein Grad über dem Gefrierpunkt.«
»Ach, ihr verweichlichten Südstaatentypen wißt einfach nicht den Wechsel der Jahreszeiten zu schätzen.«
Mrs. Anderson drückte rasch die Tür ins Schloß, nachdem sie sie eingelassen hatte und führte sie durch die kleine Diele, wo sie ihre Mäntel aufhängten. Sie war eine kleine, freundlich lächelnde Frau, in einer altmodischen Art und Weise gutgekleidet, behängt mit einer Menge altem Schmuck, der einmal viel Geld gekostet haben mußte. Sie sprach mit einem stärkeren Akzent als Claire, und in Johns Ohren nahm es sich beinahe wie Englisch aus, doch mit einem ländlichen Unterton platter New-Hampshire-Konsonanten.
»Ich hoffe, Sie werden solches Wetter überleben, Mr. Bishop«, sagte sie. »Vielleicht möchten Sie etwas zum Wiederherstellen?«
Dies bedeutete nicht den erwarteten Sherry, sondern einen wärmenden Brandy. Wenigstens war Mrs. Anderson eine Realistin, soweit es ihr Klima anging. Sie führte sie von der kleinen, verzierten Hausbar durch einen bogenförmig ausgeschnittenen Durchgang in ein geräumiges, mit Teppichen ausgelegtes Wohnzimmer, dessen Decke dicke Eichenbalken durchzogen. Aus zwei Wandlautsprechern klimperte leise Cembalomusik von Vivaldi. Alles stand voll von Antiquitäten, und auch die Sessel bezeugten ihr Alter, indem sie sich als etwas zu klein für Johns Gestalt erwiesen.
Mrs. Anderson war heiter, beinahe flatterhaft. Dabei bemühte sie sich augenscheinlich sorgfältig darum, einen gelassenen Gesichtsausdruck zu zeigen. Ihre gerunzelte Haut sah gesund aus und ließ auf lange, erfrischende Spaziergänge im Freien schließen. Er erinnerte sich der alten Weisheit, daß die Mutter einer Frau ein guter Hinweis darauf ist, wie sie altern wird, und bemerkte, daß sie kräftig war, mit einem gesunden Muskeltonus, der ihren Bewegungen federnde Spannkraft verlieh. Dann schämte er sich ein wenig seiner kalt-analytischen Betrachtungsweise. Trotzdem war es eigentlich nur fair, betrachtete sie ihn doch genauso kritisch, nämlich als – das Wort schien hier in Boston passend – einen Freier um ihre Tochter.
»Sie kommen aus Atlanta, Mr. Bishop?«
»John. Nein, Athens, Georgia – das ist eine Stadt mittlerer Größe.«
»Und wie kommt es, daß Sie in Boston sind?«
Es wurde alles mit Freundlichkeit und Anstand gesagt, aber um ihren Mund blieb ein konzentrierter, kritischer Zug. Er breitete seine Biographie aus. Frühes Interesse an der Mathematik. Die Entscheidung, entgegen den Vorstellungen seines Vaters, eines Ingenieurs, nicht an die Technische Hochschule von Georgia zu gehen, sondern an die Rice-Universität in Houston. Nein, mit dem Raumfahrtprogramm habe er nichts zu tun gehabt. Nach dem Bakkalaureat weiteres Studium und Promotion. Frühes Interesse an kombinatorischer Geometrie, mit späterer Anwendung auf Teilchenphysik. Ein knappes Jahr in Berkeley. Gegenwärtig wissenschaftlicher Assistent am MIT, beschäftigt mit interessanten Grenzwertproblemen. Dies fügte er hinzu, weil es den üblichen Fragen vorbeugte. Nichts brachte neugierige Leute wirksamer zum Schweigen als unverständlicher Fachjargon.
»Nun, das ist sehr eindrucksvoll«, sagte Mrs. Anderson mit Herzlichkeit. Er wußte, daß er ihr nicht gegeben hatte, was sie wirklich wollte – ein Gefühl für die Familie, die ihn hervorgebracht hatte –, aber tatsächlich wußte er nicht, wie er das anfangen sollte. Er konnte ihr von einer Seite seiner Familie erzählen, die noch immer in klassischen alten Häusern in und um Charleston lebte. Dort waren die Rasenflächen makellos, und neben den Eingängen standen noch die hundert Jahre alten Statuen von Negerjungen, die den Hausbewohnern und ihren Gästen einst als Aufstiegshilfen gedient hatten, wenn sie ausritten; inzwischen hatte man ihre Gesichter gleichmacherisch weiß gestrichen, die Hände aber vergeßlicherweise schwarz gelassen. Oder er könnte genausogut die Verwandten mütterlicherseits erwähnen, die, wenn sie mit Schnupfen auf dem Feld arbeiteten, sich abwechselnd ein Nasenloch mit dem Daumen zuhielten und das andere ausbliesen. Er beschloß, diese Stückchen Lokalkolorit auszulassen.
Zum Abendessen gab es Roastbeef, Kürbisgemüse, Reis und einen anständigen Bordeaux. Nicht bemerkenswert, aber durch und durch Bostoner Art. Es wurde viel von Onkel Alex und dem Grundbesitz in New Hampshire gesprochen. Erst bei einer erlesenen Nachspeise aus überbackenem Eis sagte Mrs. Anderson: »Ich fand den Artikel im Globe sehr
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