Artefakt
Gesteinsblock durchdrungen.
»Ich… ich gebe zu, daß es die Analyse der Bohrungsproben erklären würde…« Sie konzentrierte sich in unbewußter Lieblichkeit, und er bewunderte das Spiel der Emotionen in ihren Zügen. Die Unterlippe war in ungläubiger Skepsis vorgeschoben, ein Nasenflügel gebläht. Eine Augenbraue wölbte sich in vorläufiger, widerstrebender Akzeptanz. »Und die Konzentration in dem Zapfen…« Sie hatte den Zusammenhang rasch erkannt. »Aber das würde einen gewaltigen Strahlungsausbruch voraussetzen.«
»Allerdings.«
Sie nippte an ihrem Kaffee. »Die Geschichte erinnert mich an das Turiner Grabtuch.«
Auf seinen verwunderten Blick fügte sie hinzu: »Ein Stück Stoff, das auf irgendeine Weise Gestalt und Gesichtszüge des toten Christus bewahrt hat. Es war jahrzehntelang ein Streitfall unter den Gelehrten. Religiös orientierte Leute glaubten, es liefere den unumstößlichen Beweis für die Überlieferung der Bibel. Das Problem bestand darin, zu erklären, wie der Abdruck in den Stoff gelangen und dort gleichsam fotografisch fixiert werden konnte.«
»Du meinst, um ein Wunder zu erklären, bedurfte es eines zweiten Wunders.«
»Ja. Ich halte es für richtiger, nach einer weniger komplizierten Erklärung Ausschau zu halten. Aber welche andere Erklärung gibt es in unserem Fall?«
»Die Archäologie erinnert mich an eine Detektivgeschichte, in der es nur Indizienbeweise gibt, und nicht einmal eine klare Vorstellung von der Art des Verbrechens.«
Sie nickte nachdenklich. »Du weißt, was Abe will, nicht wahr?«
»Ich kann es mir denken.«
»Aber eine Bohrung durch diesen Stopfen in der Rückseite… das würde die Zerstörung möglicherweise wesentlichen Materials bedeuten.«
»Dieses Zeug ist bloß Gestein, eine Art Mörtel. Du hast die Analyse gesehen.«
»Trotzdem, es gefällt mir nicht… ich hatte nie Entscheidungen dieser Art zu treffen.« Ein etwas kläglicher Ton kam in ihre Stimme. »Ich hätte das Fundstück von Anfang an nicht an mich bringen und entführen dürfen, und wenn ich es nun auch noch zerschneiden und durchbohren lasse…«
»Du hast das Ding genommen, um es zu untersuchen. Nun hat es sich als ein Rätsel erwiesen, nicht bloß als eine Art Idol oder was immer. Jedenfalls gibt es jetzt kein Zurück mehr.«
»Ich… irgendwie kommt mir verrückt vor, was wir in Griechenland machten.«
»Daß du so denkst, ist nur natürlich. Boston ist dein innerer Halt. Du bist eine sehr traditionelle Frau.«
»Ja, ich weiß«, sagte sie. »Bis hin zu den Strümpfen.«
Sein Mund verzog sich in der Andeutung lüsterner Begehrlichkeit. »Zugegeben, und mit Vergnügen.«
Er wurde ernst und signalisierte nach einer zweiten Tasse Kaffee. »Aber es gibt zwei Claires – die eine, die mit Bostoner Strenge und Korrektheit imprägniert ist und jetzt hier sitzt, und die geheime Claire. Die ich in Griechenland kennenlernte, die frei war von ihren Verwandten, der Universität und den Freunden und der Last der Traditionen dieser Gegend.« Er machte eine alles umschließende Geste, welche die Balkendecke, die Vertäfelung aus dem neunzehnten Jahrhundert und das gepolsterte Mobiliar des Cafes einschloß. »Die letztere Claire war bereit, sich mit Kontos zu messen, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen und das Fundstück zu entführen. Aber hier, eingebettet in die alte Umgebung mit ihren gewohnten Regeln und Prinzipien, kommen die Zweifel auf und nehmen überhand. Der Beruf, die Hierarchie der Universität, die lieben alten Großeltern, die Verwandten und Bekannten – sie alle würden entgeistert sein, wenn sie davon erführen.« Er schaute sie an und sagte: »Ist es nicht so?«
Zu seiner Verblüffung sah er ein verräterisches nasses Glänzen in ihren Augen. »J-ja. Ungefähr so. Ich habe mich nie als… als eine zwiespältige Persönlichkeit…« Sie brach ab und warf ihm ein klägliches Lächeln zu.
»Nun, ich könnte mich irren…«
»Nein, du hast recht.«
»Ich kenne dich noch nicht lange…«
»Ich sehe ein, daß ich von außen diesen Eindruck erwecke, und…«
»Ich wollte nicht… äh… indiskret sein.«
»Nein, nein, du bist es nicht. Ich möchte, daß du offen darüber sprichst.« Wie in stummer Erklärung öffnete sie die Hände.
»Von dieser Claire Nummer zwei würde ich gern mehr sehen«, sagte er und lächelte.
Ein Ausdruck echten Bedauerns kam in ihre Züge. »Ich auch.«
»Man sieht den Unterschied, wenn du ins Labor kommst. Unter dem Druck der Umstände
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