Artikel 5
war froh, dass er meine Reaktion nicht gesehen hatte; das Letzte, was ich mir wünschen konnte, war, dass er dachte, ich hätte nicht nur Angst vor Waffen, sondern auch noch vor der Dunkelheit. Nach einem tiefen Atemzug ließ ich die Sachen an Ort und Stelle fallen und beeilte mich mit dem Umziehen, für den Fall, dass er nach mir sehen wollte.
Die Jeans passte recht gut, auch wenn sie nach dem Gewichtsverlust, den mir die Reformschule eingebracht hatte, in der Taille etwas zu weit war. Ich war gerade dabei, das Tanktop über den Leib zu streifen, als ich ein Rascheln hinter mir vernahm.
Aufgeschreckt wirbelte ich herum und sah Chase in Jeans und neuem Pullover mit einem Bündel über der Schulter drei Meter entfernt stehen. Ich wandte mich wieder ab. Das Tanktop hing immer noch über meinem BH .
»Nur eine Sekunde, ja!«, bat ich mit schriller Stimme. »Dreh dich um oder so!«
Er hörte nicht auf mich und kam näher. Ich hörte seinen Atem, fühlte die Nähe seines Körpers. Äußerlich stand ich wie erstarrt da, innerlich war ich voller Anspannung und fühlte mich wie unter Strom. Wie lange hatte er schon dort gestanden und mir zugesehen?
»Was ist in der Besserungsanstalt mit dir passiert?« Seine Stimme war nur wenig lauter als ein Flüstern und geprägt von kaum unterdrückter innerer Anspannung.
»Was?« Als würden sie langsam wieder auftauen, spürte ich meine Finger wieder, sodass ich das Shirt herunterziehen konnte. Kaum war das geschafft, warf ich mir andere Dinge über.
»Als ich eingetroffen bin, haben sie mich zu diesem Raum gebracht, und ich habe dich gehört . Ich kriege das nicht mehr aus dem Kopf.«
Die Hütte. Er hatte Brock und die Soldaten gestört, als sie gerade mit meiner Bestrafung hatten beginnen wollen. Ich hatte geschrien. Schon die bloße Erinnerung bereitete mir Übelkeit.
»Darüber willst du jetzt mit mir reden?«, fragte ich ungläubig.
Er wartete nicht darauf, dass ich mich wieder umwandte. Stattdessen stand er plötzlich vor mir und beugte sich zu mir herab. Aus ein paar Zentimetern Entfernung starrte er mir direkt ins Gesicht. Seine Hände umfassten meine Schultern mit so viel Kraft, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht zurückzuzucken.
»Was haben die mit dir gemacht?«
»Was die mit mir gemacht haben?« Ich befreite mich aus seinem Griff. » Du hast mich doch dorthin geschickt! Und jetzt interessiert dich plötzlich, was mit Leuten geschieht, die verschwinden?«
Das Gefühl, verraten worden zu sein, der ganze Groll tobte erneut in mir. Nachdem er eingezogen worden war, hatte er nicht angerufen und meine Briefe nicht beantwortet. Er hatte mich nicht wissen lassen, ob er noch am Leben war, ob es ihm gut ging, und er hatte nie nach meiner Mutter und mir gesehen. Sein Versprechen, er würde zurückkommen, war nur eine Lüge gewesen. Denn zurückgekommen war ein Soldat, nicht Chase. Und dieser Soldat hatte alles kaputt gemacht.
Er wich zurück, als hätte ich ihm einen Stoß versetzt, und seine Hände wühlten sich in sein kurzes Haar.
»Warum hast du das getan?«, drang ich weiter auf ihn ein. »Ich weiß, dass du … dass du dich einmal gesorgt hast. Um Mom und mich. Versuch gar nicht erst, das abzustreiten.« Ich ballte die Fäuste so fest, dass sich meine Fingernägel tief ins Fleisch bohrten. Die zornigen Striemen auf meinen Handrücken jagten einen blitzartigen Schmerz durch meine Arme. Ich verlangte zu viel; ich konnte es in seinem Gesicht lesen, konnte den Konflikt in seinen Augen wüten sehen. Wollte ich die Antwort wirklich hören? Oder würde sie mich schlimmer als alles zuvor treffen, mich niederschmettern, wenn ich doch stark sein musste?
Er klappte den Mund auf. Und wieder zu. Sein Blick traf meine Augen, und in ihm lag eine wilde Verzweiflung, die mich aufforderte, seine Gedanken zu lesen. Aber sosehr ich es wollte, ich konnte nicht. Ich konnte nicht verstehen. Was ist es? Was wagst du mir nicht zu sagen?
»Was ist passiert?«, fragte ich nun mit sanfterer Stimme.
Härte überzog seine Augen, bis sie aussahen wie glänzende Steine.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Menschen ändern sich, schätze ich.«
Er schnappte sich den Rucksack, stopfte ihn mit allerlei Nützlichem voll und ging die Treppe hinunter.
Meine Wutrede ersoff in Betroffenheit wie in einem Kübel Eiswasser.
So schnell ich konnte, schnürte ich mit zitternden Händen die neuen Stiefel und folgte ihm.
»Was hast du eingepackt?«, fragte ich Chase am Fuß der Rolltreppe,
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