Arto Ratamo 7: Der Finne
den Sohn von Zar Alexander II. gebaut worden war.
Bukin brauchte beim Anziehen länger als sonst, weil er über das »Opferbuch« nachdachte. Das Dokument stellteeine enorme Bedrohung dar, das hatte er schon vor dem Theater gewusst, das der FSB seit einigen Wochen in dieser Sache veranstaltete. Seine Vorgänger Jelzin und Gorbatschow hatten ihm von dem Dokument erzählt, das die Geschichte Russlands im Laufe der Jahrhunderte mehr beeinflusst hatte als alle Epidemien und Kriege zusammen. Aber die Informationen über das »Opferbuch« waren schon so lange nur mündlich von einem Führer Russlands an den anderen weitergegeben worden, dass sie sich längst in vage Gerüchte verwandelt hatten: Es war Russlands Schuld, dass sich die »Spanische Grippe« weltweit ausgebreitet und zum Tod von über vierzig Millionen Menschen geführt hatte. Stalin hatte die Wirkung ansteckender Krankheiten an Millionen Russen getestet. Lenin war von seinen politischen Gegnern ermordet worden … Das waren schockierende Behauptungen. Aber anscheinend wusste niemand mehr genau, was das »Opferbuch« tatsächlich enthielt.
Mit Ausnahme der Kirche. Es sah so aus, als würde die orthodoxe Kirche die Geheimnisse des »Opferbuches« kennen. Beim Informationsaustausch mit dem Leiter des FSB General Korolkow hatte der Sekretär des Patriarchen Ilja Furow versichert, dass dieses »Opferbuch« mit seinen Berichten und Beweisen ihn, Wadim Bukin, den Präsidenten Russlands, vernichten könnte. Laut Furow enthielt das Opferbuch Beweise dafür, dass gerade er, der Präsident, sowohl das Biowaffenprogramm Ikarus als auch die Entwicklung des Vogelgrippevirus H5N1 zu einer Biowaffe initiiert hatte. Korolkow hatte ihm natürlich davon erzählt.
Als der dezente Seidenschlips millimetergenau saß und der Scheitel der sandfarbenen kurzen Haare schnurgerade war, ging Bukin ins Erdgeschoss hinunter und begrüßte seinen Gast, die Direktorin von »Bereich 19«, Doktor Natalia Surowa. Er gab ihr nicht die Hand, lächelte aber immerhinhöflich, als er die Molekularbiologin, die älter war als er, zu seinem Arbeitszimmer führte.
»Wie ist die Lage?«, fragte Bukin und sah genauso streng sachlich aus wie die Einrichtung.
Natalia Surowa strich über ihr eng anliegendes graues Haar und den Dutt. »Alle fünfzig Wissenschaftler, die am Forschungsprogramm Ikarus beteiligt waren, sind in andere Einrichtungen der Armee versetzt worden. Ich würde denken, dass die Prämie von einer halben Million Dollar und die Unterschrift unter die Erklärung zur Schweigepflicht ausreichen, dass sie still bleiben.«
Der Sicherheitsdienst des Präsidenten wird ganz sicher dafür sorgen, dass sie still bleiben, dachte Bukin, sagte aber laut: »Sie würden es denken?«
Natalia Surowa setzte sich aufs Sofa. »Immerhin sind das fünfzig Leute. Es genügt ein einziges geldgieriges Individuum, das mit dieser Nachricht des Jahres kassieren will und gegenüber den Medien Sie … also unser Forschungsprogramm, den bedauerlichen Unfall und das Entweichen der Viruswaffe verrät. Ich weiß nicht, was die für eine solche Sensationsmeldung zahlen würden, aber wahrscheinlich sehr viel mehr als die halbe Million Dollar von Ihnen.«
Bukin hob die Hände hoch wie ein Soldat, der sich ergab. »Sind Sie jetzt absolut sicher, dass diese tödliche … Version des Virus aus ›Bereich 19‹ entwichen ist?«
»Ja. Das freigesetzte Virus stammt aus unseren Labors«, versicherte Surowa.
Bukin haute mit der Faust auf den Schreibtisch, ging ans Fenster und schaute seinen Töchtern zu, die auf dem Hof Federball spielten. Maria verlor jedes Mal gegen ihre Schwester. »Werden die Journalisten oder ausländischen Wissenschaftler herausfinden, wo die Krankheit herstammt?«, fragte er schließlich.
Natalia Surowa hätte am liebsten »nein« gesagt. Nur einkleines, verlogenes Wort, und Bukin würde sie in Frieden lassen. Und wenn das Schlimmste nicht eintrat, würde sie nie für ihre Lüge geradestehen müssen. »Die ersten Infizierten sind alle aus Jekaterinenburg, man wird die Krankheit automatisch mit ›Bereich 19‹ in Verbindung bringen.«
»Von welchen Schäden ist im schlimmsten Fall auszugehen?« Bukin hörte sich so an, als wollte er die Antwort gar nicht wissen.
»Wenn die Menschheit Pech hat und es zu einer weltweiten Epidemie, das heißt, zu einer Pandemie kommt, wird sich die Krankheit innerhalb von drei Monaten auf alle Kontinente ausbreiten. Es gibt keine Impfung dagegen, niemand verfügt über
Weitere Kostenlose Bücher