Arto Ratamo 7: Der Finne
»Opferbuch« war nur einige Jahre nach der Gründung der Opritschnina 1565 durch Iwan den Schrecklichen entstanden. Dies war die erste Geheimpolizei, die auf Befehl des Herrschers Russen abschlachtete, Vorbild und Vorgänger der Tscheka, des KGB, des FSB und zahlreicher anderer Sicherheitsbehörden.
Die blutigste Säuberungsoperation der Opritschnina geschah 1570. Damals fielen ihre schwarz gekleideten und auf Rappen reitenden Soldaten, die Opritschniki, geführt von Zar Iwan dem Schrecklichen selbst, in Nowgorod ein, um die Verschwörung in der Stadt zu zerschlagen, die mit dem Feindesland Litauen konspirierte. Während der Verhöre, die fünf Wochen dauerten, wurden im Großfürstentum Nowgorod Zehntausende Menschen hingerichtet.
Der Massenmord von Nowgorod war ausgelöst worden, als der Metropolit Filip bei einem Gottesdienst in der Uspenski-Kathedrale Iwan dem Schrecklichen Brutalitäten gegen das Volk und Geistliche vorwarf. Der Metropolit wurde verhaftet, und im Laufe der unmenschlichen Verhöre durch die Opritschnina verriet Filip genau solche Geheimnisse, die Iwan der Schreckliche erwartet hatte. Es fand ein eindrucksvoller Schauprozess statt, und Metropolit Filipmachte man zum abschreckenden Beispiel. Der Führer der Opritschniki, Maljuta »Babe« Skuratow, ließ den Metropoliten im Kloster von Twer einsperren, wo er für den Rest seines Lebens schmachten musste, sein einziger Trost war es, das »Opferbuch« zu verfassen. Der Metropolit schrieb alle von Iwan und den Opritschniki begangenen Gräueltaten nieder: das Blutbad in Nowgorod, die Morde an den Klostermönchen, die Liquidierung der religiösen Führer. Und er notierte, wie man Leonid, den Erzbischof von Nowgorod, auf Befehl Iwans in ein Bärenfell hüllte und danach ein Rudel rasender Jagdhunde auf ihn hetzte.
Patriarch Wladimir II. lächelte betrübt und hob das Gesicht zur Sonne. Die Kirche hatte auch zu Zeiten Iwans des Schrecklichen in bedeutendem Maße die Meinungen beeinflusst, Macht ausgeübt und das Volk geeint. Deshalb hatte der Zar versucht, die geistlichen Führer zu eliminieren und die Kirche seiner Macht unterzuordnen. Genau wie derzeit Präsident Bukin.
Aber jetzt hielt der Patriarch das neueste Kapitel des »Opferbuches« in der Hand, einen Stapel Unterlagen, der Präsident Bukin mit der langen Kette der dort aufgeführten Verbrechen verknüpfte. Zusammen könnten das »Opfer buch « und Doktor Surowas Dokumente Bukin vernichten. Er musste das von Otto Forsman in Finnland versteckte Dokument in die Hände bekommen. Unbedingt.
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Helsinki, Samstag, 12. August
»Antibiotikum: Medikament gegen Vegetarismus. Pastor: Kurzer Ausschnitt aus einer Fußballreportage. Melodrama: Fallobst.« Arto Ratamo las die Graffiti an der Wand des Hamburger-Lokals in dem Neubauviertel im Osten Helsinkis und schmunzelte.
In seinem offenen Käfer roch es nach Fett, und die beiden Ermittler kauten schweigend und gierig ihre Hamburger. Riitta Kuurmas Haare flatterten im warmen Abendwind, der nach Asphalt roch, und die Teenager am anderen Ende des Parkplatzes, die sich mit Bier vollschütteten, wollten auf ihre Mädchen Eindruck machen und spuckten große Töne.
»Ein Samstagabend im Wohngebiet«, sagte Riitta fröhlich.
»Wir haben aber auch schon stilvoller zu Abend gegessen. Das hier geht auf die Rechnung des Zeitdrucks«, murmelte Ratamo, der sich gerade Pommes frites in den Mund stopfte und förmlich hörte, wie der systolische Blutdruck in Richtung zweihundert schnellte. Ihm fiel sein erstes Abendessen mit Riitta vor viereinhalb Jahren im russischen Restaurant »Schaschlik« ein, später ihre Kräutergerichte, die Pasta nach Syrakuser Art ihrer Mutter, einer geborenen Italienerin, und jenes Mittagessen im »Havenrestaurant« am Rande von Den Haag, bei dem er endgültig begriffen hatte, dass ihre Beziehung zu Ende gegangen war.
»Wie geht es Nelli?«, fragte Riitta und wischte sich energisch die Mundwinkel ab.
Ratamo wich der Frage aus. »Sie ist mit Marketta und Jussi zusammen im Ferienhaus in Pusula«, erwiderte er und schaltete das Radio ein. Er wollte kein Gespräch über Mädchen im vorpubertären Alter und ihre Beziehungen zu Jungen beginnen. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass Riitta garantiert viel ungezwungener mit Nelli über dieses Thema sprechen könnte als er. Riitta und Nelli waren immer glänzend miteinander ausgekommen. Er betrachtete seine frühere Lebensgefährtin verstohlen von der Seite: Riitta sah jetzt wieder genauso
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