Arto Ratamo 7: Der Finne
Abwehrkräfte gegen den Erreger. Es ist von Millionen Opfern auszugehen, ob Dutzende oder Hunderte Millionen, das kann ich nicht voraussagen. Die Schätzung der Weltgesundheitsorganisation liegt bei etwa hundertfünfzig Millionen Toten.«
Bukin knurrte wütend, er sah schockiert aus. »Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte er und wartete, bis Doktor Surowa den Raum verlassen hatte.
Warum kamen Pech und Unfälle immer wie in aufeinanderfolgenden Wellen und nie einzeln? Warum musste das »Opferbuch« gerade jetzt aus den Tiefen der Geschichte auftauchen, kurz nach dem Unfall in »Bereich 19«?
Wenn die entwichene Viruswaffe eine Pandemie verursachte und Millionen Menschen umkamen, würden die Wissenschaftler herausfinden, dass dieses Virus aus Russland stammte – aus »Bereich 19«. Und das »Opferbuch« würde enthüllen, dass er für die Entwicklung der Viruswaffe die Verantwortung trug. Das würde das Ende seiner Ära, seine Vernichtung bedeuten. Und das konnte er nicht akzeptieren, Russland brauchte einen starken Führer, einen wie ihn. Es war sein Verdienst, dass Russland jetzt den Rang des größten Erdgasexporteurs und Ölproduzenten der Welteinnahm, er war es gewesen, der die Idee gehabt hatte, Russlands Stellung als Großmacht mit Hilfe der Energiereserven zurückzuerobern. Er hatte viele wichtige Unternehmen der Waffen- und Ölindustrie wieder in Staatseigentum überführt, er hatte dafür gesorgt, dass die Gouverneure wieder vom Präsidenten ernannt wurden, und er hatte das Vertrauen der Russen in die Autoritäten wiederhergestellt. Er wollte noch jahrelang an der Macht bleiben.
Es ärgerte ihn maßlos, dass seine Leute in Finnland einen Skandal vermeiden und vorsichtig handeln mussten. Würde die Jagd nach dem »Opferbuch« in Russland stattfinden, hätte er alle Hindernisse mit roher Gewalt aus dem Weg geräumt. Das Blutbad in der Schule von Beslan und das Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater waren für ihn wie ein Lotteriegewinn gewesen: In Russland durfte man heute gegen alle Umtriebe, die auch nur andeutungsweise etwas mit Terrorismus zu tun haben könnten, uneingeschränkt Gewalt einsetzen. Die Angelegenheit in Finnland musste in Ordnung gebracht werden, beschloss Bukin und griff zum Telefon. Erst würde er den Leiter des FSB, General Korolkow, anrufen und danach …
Patriarch Wladimir II. setzte sich auf dem Puschkinplatz im Nordwesten Moskaus auf eine Parkbank, strich den schneeweißen Bart auf der Brust gerade und betrachtete das Denkmal des Dichters Alexander Puschkin. Warum hatte der große Dichter in der Pose verewigt werden wollen, die durch Napoleon bekannt geworden war: die rechte Hand in den Mantelaufschlag geschoben? Napoleon dürfte die Haltung kaum von dem dreißig Jahre jüngeren Puschkin übernommen haben. Der Patriarch kam zu dem Schluss, dass es sich lediglich um eine Pose handelte, die Bildhauer und Maler jener Epoche bevorzugt hatten.
Die sengende Mittagssonne stand genau über ihm, aberder Patriarch fühlte sich wohl. Er kam sich vor wie beim Karneval – wann war er wohl in Moskau das letzte Mal in Zivilkleidung unterwegs gewesen? Vielleicht irgendwann in den achtziger Jahren, als er heimlich Andersdenkende getroffen hatte, im Gorki-Park, wo über Lautsprecher mit viel Getöse die offizielle Propaganda der Partei verkündet worden war. Jetzt, zwanzig Jahre später, war er wieder auf den Beinen, und es diente demselben Zweck: Russland zu helfen, den Weg zur Demokratie einzuschlagen. Zwischen Kirche und Staat musste das Gleichgewicht des Schreckens wiederhergestellt werden. Er war hierhergekommen, um seine Informationsquelle zu treffen, die Leiterin von »Be reich 19« war nur zu einem Gespräch bereit, wenn sie mit ihm selbst reden konnte.
»Verzeihung, Eure Heiligkeit, ich habe mich leider verspätet. Ich komme von der Villa des Präsidenten«, sagte Doktor Natalia Surowa, die plötzlich hinter der Parkbank aufgetaucht war.
»Ist man Ihnen gefolgt?«, fragte der Patriarch.
»Ich fürchte, man observiert mich, obwohl der Präsident mir vertraut. Ich habe natürlich mein Bestes versucht, eine Stunde lang bin ich mit der Metro durch Moskau gefahren.«
Der Patriarch lächelte beruhigend und klopfte auf die Lehne der Bank. »Wir sind doch nur zwei Touristen, die sich zufällig an einem der beliebtesten Treffpunkte Moskaus zusammen auf dieselbe Parkbank setzen.«
Natalia Surowa wirkte unruhig, als sie neben dem Patriarchen Platz nahm. »Das letzte Mal war ich
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