Arto Ratamo 7: Der Finne
Zentrums von Helsinki kamen ihm völlig fremd vor, überall schossen in einem frappierenden Tempo neue Gebäude in die Höhe.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals einem Ereignis mit solch fieberhafter Erwartung entgegengesehen zu haben wie der Reise nach Jäniskoski, die am nächsten Tag beginnen sollte. Das von seinem Vater beschriebene Dokument zu finden wäre für jeden Historiker die Erfüllung seiner Träume.
Die Reisevorbereitungen hatten ihn aus der düsteren Leere herausgerissen, in die er nach dem Verlust Marissas gefallen war. Am Freitag und Samstag hatte er in London seine Exkursion in die Einöde Lapplands gemeinsam mit seinem Schwiegervater geplant, am Sonntagabend war er nach Helsinki geflogen und im Hotel »Arthur« abgestiegen. Trotz aller Bemühungen hatte er keinen Kontakt zu seinem Vater bekommen, somit schien die Reise nach Jäniskoski auch die einzige Möglichkeit zu sein, um herauszufinden, was dem Alten passiert war.
Im Laufe des Vormittags hatte er im Fachgeschäft »Par tioaitta « seine Wanderausrüstung gekauft, im russischen Konsulat das Touristenvisum abgeholt, im Finnair-Büro dieFlugtickets gekauft und im Restaurant »Samratti« ein kräftiges Mittagessen zu sich genommen. Er war selbst überrascht, dass er sich im »Forum« sogar einen Plastikbeutel voll Markenbekleidung gekauft hatte. Als Nächstes würde er seine Recherchen in der Universitätsbibliothek abschließen, dann am Nachmittag seinen Reisegefährten Arto Ratamo treffen und schließlich mit einem Hauptwachtmeister der Kriminalpolizei über das Verschwinden seines Vaters sprechen.
Das grüne Ampelmännchen an der Mannerheimintie ließ auf sich warten. Sutela klopfte nervös mit dem Schuh auf den Asphalt und überlegte, ob es wohl klug war, einen wildfremden Polizisten nach Russland mitzunehmen. Ratamo machte am Telefon zwar einen sympathischen Eindruck und war ein Vertrauter Jussi Ketonens, den sein Vater empfohlen hatte, aber was würde der Mann tun, wenn sich in Jäniskoski tatsächlich außenpolitisch brisante historische Dokumente fänden? Schließlich war Ratamo Ermittler der Sicherheitspolizei.
Er war so in Gedanken versunken, dass auf der Aleksanterinkatu eine Straßenbahn nur wenige Zentimeter entfernt an ihm vorbeiratterte. Es ärgerte ihn, dass er wieder einmal wie ein kleiner Junge die Wünsche des Alten erfüllte, aber die brennende Neugier konnte nur gelöscht werden, wenn er die Unterlagen in der Teufelskirche von Jäniskoski fand. Seine Phantasie hatte schon alle möglichen Geheimnisse heraufbeschworen, die in dem Dokument enthalten sein könnten. Sein Vater hatte es immer geschafft, dass der Sohn genau das tat, was er ihm vorgab. Vom Vorschulalter an war er mit ihm zu den Stätten der frühen finnischen Geschichte und zu Schauplätzen europäischer Schicksalsstunden gereist, nach Rom und Waterloo, in die Normandie und nach Versailles. Auf diese Weise hatte er mühelos sein Interesse für die Geschichte auf den Sohn übertragen. Die Exkursionenwaren angenehme Erinnerungen an seinen Vater, der an jenen Tagen immer voller Begeisterung, positiv eingestellt, ja fast fröhlich gewesen war. Ohne ihre gemeinsame Beschäftigung mit der Geschichte hätte er das normale Leben kaum ausgehalten: die blödsinnig strengen Regeln seines Vaters im Alltag, die Belästigungen durch Mitschüler, das Leben ohne Mutter …
Mit der Bemerkung in dem Brief, in seinem Besitz befände sich ein Dokument,
»das die Wahrheit über die letzten Kriege Finnlands, über die Gründe für ihren Ausbruch und ihre Beendigung … aufdeckte«
, hatte sein Vater an der richtigen Schnur gezogen. Der Alte wusste genau, dass er der Versuchung nicht widerstehen könnte, sondern nach Jäniskoski reisen würde. Sutela hatte beschlossen, den Angaben im Brief seines Vaters zu vertrauen. So mancher hatte nicht viel Gutes über Otto Forsman zu sagen, aber ein Lügner war sein Vater nicht. Und Sinn für Humor hatte er weniger als eine dorische Säule.
Sutela blieb auf der Treppe am Haupteingang der Universitätsbibliothek in der Unioninkatu stehen, schob die runde Brille auf der Nase zurecht und betrachtete den prächtigen Westgiebel des Doms. Ihn plagten Gewissensbisse: Er hoffte, dass die Behauptungen seines Vaters der Wahrheit entsprachen, doch andererseits hatte der Alte in seinem Brief auch geschrieben, er sei in Gefahr. Sutelas Besorgnis wuchs noch, als ihm einfiel, dass der Kalender aus seinem Arbeitszimmer verschwunden war. Würde man auch ihn
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